© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Gleichheit als Lebenslüge
Wie das Gemeinwohl mit unerfüllbaren Umverteilungsversprechen zugrunde gerichtet wird
Doris Neujahr

Die politische Ordnung, auf die wir uns berufen und deren Vokabular wir noch benutzen, ist längst passé. Wäre es anders, hätte die Große Koalition eine Auswahl der Besten rekrutiert, die den Problemstau aufzulösen beginnt. Nach über zwei Jahren der Regierung Merkel ist klar: Diese auf das Staatswohl orientierten Besten gibt es gar nicht, jedenfalls bilden sie eine machtlose Minderheit innerhalb der politischen Klasse.

Niemand kann glauben, daß es anderen Parteienkonstellationen besser gelänge, die Sozialsysteme zu sanieren, die Staatsverschuldung, Steuern und Abgaben zurückzufahren, eine rationale Ausländerpolitik zu betreiben, eine schlüssige Europa-, Außen- und Militärpolitik zu formulieren usw. Die Diskussionen um "Jamaika", Schwarz-Grün, Ampel oder sonstwas sind inzestuös, sie erzählen von Taktik und Karriereplänen statt von Kompetenz und Strategien. Gemessen an der Problemwucht und dem Staatswohl sind das Parteiensystem und das Auswahlverfahren im Politikbetrieb definitiv schrottreif. Gewiß, die Klage über den intellektuellen und moralischen Niveauverlust der politische Klasse ist billig zu haben und in ihrer Generalisierung ungerecht - aus der Luft gegriffen ist sie dennoch nicht.

Man muß die Frage stellen nach den Strukturen und längerfristigen Konstellationen, die diese Situation herbeigeführt haben. In Deutschland bildet das "Wirtschaftswunder" den einzigen wirklichen Gründungsmythos, der durch den Sozialstaat eine integrative Kraft entfaltet. Hier beginnt schon das Problem. Der Staatsrechtler Ernst Forsthoff hielt es für ein "ehernes Gesetz", daß die primäre Staatlichkeit - deren erste Pflicht der Selbsterhalt ist - in dem Maße abgebaut wird, in dem sie sich in Sozialstaatlichkeit verwandelt. Denn mit dem Ausbau des Sozialstaates wächst die Empfindlichkeit der Bürger gegen Risiken aller Art und damit ihr Immobilismus. Der wiederum führt zum Verzicht auf Politik, da diese stets riskant ist, und letztlich zum Verzicht auf Staatlichkeit. Das ist deshalb fatal, weil das Politische sich zwar nicht im Staatlichen erschöpft, der Staat aber die Form ist, in der ein Volk sich zu politischem Handeln befähigt. Die Wähler in Deutschland haben sich teilweise selber politisch blockiert, indem sie mehrheitlich Politikern zuneigten, die sie in ihrem Immobilismus bestätigten. Der Zustand der politischen Klasse ist somit auch ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Ein Blick in die Nachbarländer zeigt freilich, daß Deutschland damit nur exemplarisch ist für eine internationalen Entwicklung. Die bestimmende Tendenz im Westen war in den letzten Jahrzehnten die Konstituierung der Massendemokratie. Der Begriff bezeichnet einen Zustand, in dem die Bürger sich nicht mehr mit zivilen Rechten begnügen, sondern über das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht politisch mitbestimmen, und in dem durch die Massenproduktion ein Überfluß an Gütern erzeugt wird. Um die Güter abzusetzen, wird der Bürger als Konsument, also in seinen hedonistischen Instinkten angesprochen.

Das erzeugt massenhafte Erwartungen an die Politik, der formalen Gleichheit des Bürgers seine materielle Gleichstellung folgen zu lassen. Die Wählerstimme gibt Gelegenheit, dieser Erwartung ebenso massenhaft Nachdruck zu verleihen. Das spült Politiker nach oben, die versprechen, dem Gleichheitsverlangen durch Umverteilung nachzukommen. Oft sind sie selber Kinder der Massendemokratie und begreifen die Politik als Vehikel für den eigenen sozialen Aufstieg, was ihre Bedenkenlosigkeit steigert. Der Erfolg der Linkspartei gründet sich übrigens darauf, daß sie in einer Situation, in der die Umverteilung rational nicht mehr verantwortbar ist, am Versprechen materieller Gleichheit festhält.

Damit nicht genug, wurde das Egalitätsversprechen faktisch internationalisiert. Die verwunderte Frage, warum linke Parteien die Zuwanderung forciert und die Zugriffsrechte von Nichtstaatsbürgern auf das deutsche Sozialsystem ausgebaut haben, obwohl ihre eigene Klientel am heftigsten darunter leidet, findet ihre Antwort in der entgrenzten Gleichheitslogik.

In Deutschland treffen junge, kräftige Zuwanderpopulationen auf eine politikentwöhnte, hedonistisch gepolte Bevölkerung. Ihren Anspruch auf Gleichstellung tragen sie am wirkungsvollsten nicht über Institutionen, sondern schlagkräftig, in der Auseinandersetzung von Mensch zu Mensch vor. Das bedeutet, daß die Biologisierung von Politik und Gesellschaft bereits im vollen Gange ist!

Da der deutsche (Sozial-)Staat zu schwach ist, die Ansprüche zurückzuweisen, muß er sie, um sie zu realisieren, gegen die eigene, von ihm abhängig gewordene Bevölkerung wenden: finanziell, indem er sie für die Begleichung der Kosten heranzieht; juristisch, indem er ein quasi-politisches Strafrecht einführt; politisch, indem er dekretiert, daß gerade die wichtigsten Themen nicht in den Wahlkampf gehörten!

Die periodischen Anti-Nazi-Aktionen, deren Lautstärke im Mißverhältnis zum tatsächlichen Einfluß nationalsozialistischen Gedankenguts steht, bestätigen die Biologisierung des Politischen. Abgesehen davon, daß die Zuschreibung der NS-Lastigkeit recht willkürlich erfolgt, zielt sie darauf ab, politisch unwerte Existenzen zu bezeichnen, ihnen tendenziell sogar das Menschsein abzusprechen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben geht so weit, "das Lager" den "neuen biopolitischen Nomos" zu nennen. Ob das auch langfristig nur metaphorisch, im Sinne der längst praktizierten gesellschaftlichen und sozialen Ausgrenzung Einzelner zu verstehen ist, oder wörtlich, muß angesichts denkbarer und unausdenkbarer Metamorphosen der Macht als offen gelten.

Die Zauberformel, die diesen Zustand auflöst, ist noch nicht gefunden. Ob es sie überhaupt gibt, ist ungewiß. Daß sie innerhalb des gegenwärtigen politischen Systems unauffindbar bleibt, scheint aber sicher.

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