© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

"Europa läßt sich nicht ohne die Völker aufbauen"
EU: Die französische wie die britische Regierung peitschen den Reformvertrag ohne im Wahlkampf versprochenes Referendum durch
Alain de Benoist

Der Verfassungsentwurf ist passé", eine Volksabstimmung über den an seine Stelle getretenen "Lissaboner Vertrag" sei nicht nötig, erklärte vorige Woche der britische Premierminister Gordon Brown vor dem Unterhaus. Dabei hatte seine Labour-Partei ebenso wie die Tories vor der Wahl 2005 ein Referendum über die damals geplante EU-Verfassung versprochen. Der konservative Oppositionsführer David Cameron entgegnete Brown, der neue EU-Reformvertrag komme der gescheiterten EU-Verfassung gleich und ebne den Weg in die "Vereinigten Staaten von Europa". Schließlich unterlagen die Tories und die Labour-EU-Kritiker mit 248 zu 311 Stimmen.

Ob Cameron als Premier wirklich anders als Brown entschieden hätte, ist aber fraglich, wie ein Blick nach Frankreich zeigt. Denn am 9. Mai 2004 erklärte Nicolas Sarkozy noch feierlich vor dem Parteivorstand seiner konservativen UMP: "Europa läßt sich nicht ohne die Völker aufbauen, denn Europa bedeutet im Einvernehmen geteilte Souveränität, und Souveränität bedeutet das Volk. Zu jedem großen Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration muß daher das Einverständnis des Volkes eingeholt werden. Ansonsten schneiden wir uns vom Volk ab."

Kaum war Sarkozy zum französischen Präsidenten gewählt, vollzog er eine Kehrtwende und hat seither genau das Gegenteil von dem getan, was er vor knapp vier Jahren so vollmundig versprochen hat. Mit einer erdrückenden Mehrheit ließ er vergangenen Monat seinen "vereinfachten Verfassungsvertrag" vom Parlament ratifizieren - am Willen des Volkes vorbei, das den ursprünglichen Entwurf abgelehnt hatte. 336 Abgeordnete und 256 Senatoren stimmten für die Verabschiedung des sogenannten Lissaboner Vertrags, lediglich 56 dagegen.

Völlig zu Recht ist diese Vorgehensweise als skandalös angeprangert worden. Nicolas Dupont-Aignan, Abgeordneter für  Essonne und Chef der gaullistischen Bewegung "Debout la République!", bringt diese Kritik nun in Buchlänge unter dem Titel "Le coup d'Etat simplifié" ("Der vereinfachte Staatsstreich") vor. Von einem "Staatsstreich", ja sogar von "Hochverrat" spricht auch die Verfassungsrechtlerin Anne-Marie Le Pourhiet, die eine Professur an der Uni Rennes innehat.

Der "vereinfachte Vertrag" ist in Wirklichkeit nur eine Neufassung des Entwurfs, dem 54,6 Prozent der Franzosen bei dem Volksentscheid am 29. Mai 2005 eine Absage erteilten. Valéry Giscard d'Estaing, der wichtigste "Vater" jenes Verfassungsvertrags, machte gar kein Hehl daraus. "Der Unterschied", schrieb er in einem Artikel, der am 27. Oktober 2007 in Le Monde erschien, "ist eher methodischer als inhaltlicher Natur. (...) Die Rechtswissenschaftler haben keine Neuerungen vorgeschlagen. Sie sind von dem Wortlaut des Verfassungsvertrags ausgegangen und haben die Änderungen eine nach der anderen hervorgehoben, indem sie sie auf die beiden bereits bestehenden Verträge von Rom (1957) und Maastricht (1993) rückbeziehen. (...) Das Ergebnis ist, daß die institutionellen Vorschläge des Verfassungsvertrags sich vollständig im Lissaboner Vertrag wiederfinden, nur in einer anderen Reihenfolge."

Hat sich Sarkozy des "Amtsmißbrauchs" schuldig gemacht, indem er das Parlament Verfügungen verabschieden ließ, die das Volk bereits abgelehnt hatte? Indem er den von über 70 Prozent der Franzosen gewünschten neuerlichen Volksentscheid über den Lissaboner Vertrag verweigerte; indem er die Parlamentarier benutzte, um den Volkswillen zu mißachten - auf die Gefahr hin, die Kluft zwischen der politisch-medialen Klasse und den Bürgern zu verbreitern? Le Pourhiet hat keine Zweifel: "Der Begriff, der einem spontan einfällt, um die Verachtung des Präsidenten für den Volkswillen zu beschreiben, ist eindeutig der des Hochverrats."

Anders als etwa die italienische Verfassung oder die des US-Bundesstaats Kalifornien enthält die französische Verfassung keine ausdrückliche Bestimmung, der zufolge eine im Weg der Volksabstimmung getroffene Entscheidung auch nur durch einen Volksentscheid wieder geändert oder rückgängig gemacht werden darf. Dennoch stellt sie klar, daß "die nationale Souveränität dem Volk gehört, das sie durch seine parlamentarischen Vertreter sowie im Weg des Volksentscheids ausübt". Auch der Verfassungsrat hat wiederholt betont, daß den durch Volksentscheid beschlossenen Gesetzen als "direktem Ausdruck der nationalen Souveränität" gegenüber dem vom Parlament beschlossenen Recht ein "höherer Stellenwert" zukommt. "Die Ergebnisse eines Volksentscheids dreist zu ignorieren", schlußfolgert Le Pourhiet aus dieser Rechtslage, "erfüllt sicherlich den Tatbestand des Hochverrats." Auch die Bezichtigung des "Staatsstreichs" ist keine Übertreibung. Denn was kennzeichnet einen solchen, wenn nicht die Weigerung, sich dem Wählerwillen zu beugen?

"In Wirklichkeit", so Le Pourhiet, "haben wir es mit einem doppelten Staatsstreich zu tun, sowohl formaler wie materieller Art. Formal insofern, als man auf parlamentarischem Weg einen Vertrag hat verabschieden lassen, der im Weg des Volksentscheids abgelehnt worden ist; materiell insofern, als der Gegenstand dieses Verfahrens, der Lissaboner Vertrag, die demokratische Regierung Frankreichs an die technokratische Herrschaft Europas abtritt."

Doch die Bedeutung von Sarkozys Vorgehen geht weit über Streitereien über Sinn und Zweck der EU hinaus. Effektiv hat er damit den wachsenden Graben zementiert, der die repräsentative Demokratie von der Volksherrschaft trennt. Carl Schmitt, der in diesem Punkt Jean-Jacques Rousseau folgte, stellte zu Recht fest, je mehr Gewicht eine repräsentative Demokratie der Repräsentation einräume, desto undemokratischer werde sie. Sarkozys "vereinfachter Staatsstreich" ließ das Volk durch das Parlament verleugnen, das doch eigentlich seinen Willen zum Ausdruck bringen soll. Dadurch legte er offen die Präferenz der EU-Regierungen für repräsentative Herrschaft statt direkter Demokratie zutage, in der sich wiederum der Grundgedanke einer bestimmten Form von despotischer Herrschaft fortsetzt: daß das Volk unmündig sei, eigene Entscheidungen zu treffen.

Der französische Außenminister Bernard Kouchner, der sich, wie nicht anders zu erwarten war, über die Ratifizierung des "vereinfachten Vertrags" freut, erklärte bei der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses: "Das ist ein großer Erfolg. Die ganze Vielfalt der Stimmen kommt darin zum Ausdruck." Gemeint ist offenkundig: die Vielfalt all jener Stimmen, die genau dasselbe sagen.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften "Nouvelle École" und "Krisis".

Foto: Sarkozy (l.) mit Merkel, Brown und EU-Kommissionschef Barroso: Ein doppelter Staatsstreich

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