© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

"Einfach so ein Nazi-Ding"
Am 16. März 1968 beging eine US-amerikanische Soldateska ein Massaker im vietnamesischen Dorf My Lai
Michael Wiesberg

Ende 1969 gingen Bilder um die Welt, die an die Massaker beim Einmarsch der Roten Armee in die Ostgebiete Deutschlands erinnerten. Diesmal waren es allerdings ganz normale US-Soldaten, die sich des gezielten Mordes an Zivilisten schuldig gemacht hatten. Der Ort des Geschehens war das südvietnamesische Dorf Son My (genannt "My Lai 4"): Hier verübten US-Soldaten unter Führung des damals 24jährigen Leutnants William Calley am 16. März 1968 ein Kriegsverbrechen, das fast alle Bewohner des Dorfes ihr  Leben kosten sollte. Nach heutigem Erkenntnisstand kamen über 500 Zivilisten um, darunter etwa 170 Kinder. Nicht wenige Frauen wurden überdies vor ihrer Ermordung vergewaltigt.

Wie die beteiligten GIs vorgingen, erläuterte als Augenzeuge US-Soldat Paul Meadlo in einem CBS-Interview, das in dem jüngst von dem Hamburger Zeithistoriker Bernd Greiner publizierten Buch "Krieg ohne Fronten" (September 2007) dokumentiert ist. O-Ton Meadlo: "Ich hatte meine Waffe auf Automatik gestellt. Deshalb kann man nicht sagen, wie viele man erschossen hat. Ich habe vielleicht 10 oder 15 von ihnen erschossen." "Männer, Frauen und Kinder?" "Männer, Frauen und Kinder." "Und Babys?" "Und Babys." Auf die Frage, ob er verheiratet sei und Kinder habe, antwortete Meadlo: "Der Junge ist zweieinhalb, das Mädchen anderthalb." "Dann drängt sich doch die Frage auf, wie der Vater von zwei kleinen Kindern Babys erschießen kann?" Meadlos bezeichnende Antwort lautete: "Keine Ahnung. Es kommt halt vor." Ein anderer beteiligter GI erklärte zu My Lai lapidar, das Massaker dort sei "einfach so ein Nazi-Ding" gewesen.

Greiner führt die Vorgänge in My Lai, die keinesfalls einen Einzelfall darstellten, auch auf die "Politik des Bodycount" zurück. "Bodycount" meint die Zählung der getöteten Feinde, die einer einfachen Logik folgt: Je mehr gegnerische Leichen gezählt werden, desto erfolgreicher die eigene Kriegführung. Dieser "Bodycount" erstreckte sich allerdings nicht nur auf die nordvietnamesischen Soldaten (Vietcong), sondern auch auf Personen, die in "irgendeiner" Art und Weise in Verdacht standen, mit dem Feind zu kooperieren. Wenn man so will, stellt der "Bodycount" den Versuch dar, Krieg unter "betriebswirtschaftlichen" Prämissen zu führen, sollten doch die ermittelten "Kennzahlen", die aus "kriegspsychologischen" Gründen Abend für Abend über den Rundfunk verbreitet wurden, die Effizienz der eigenen militärischen Einheiten widerspiegeln. Wie viele getötete Zivilisten letztlich in diesen "Kennzahlen" enthalten sind, darüber kann heute nur gemutmaßt werden. Greiner nennt mehrere zehntausend. Calleys Auftrag im März 1968 lautete bezeichnenderweise, das Dorf, deren Bewohner der Unterstützung des Vietcong verdächtigt wurden, einzunehmen und nach Guerillas zu durchzusuchen.

Ehe das Kriegsverbrechen in My Lai öffentlich ruchbar wurde, sollte einige Zeit vergehen, bemühten sich doch jene führenden US-Offiziere, die Kenntnis von dem Massaker erhielten, dieses zu vertuschen. Das gelang einige Zeit, dann aber berichteten Newsweek und Time Magazine ausführlich über die Vorgänge in My Lai. Besondere Meriten verdiente sich dabei der heute so renommierte Journalist Seymour Hersh, der am intensivsten und hartnäckigsten recherchiert hatte, sowie der Armeereporter Ron Haeberle, der an der Operation in My Lai mit der Anweisung teilgenommen hatte, Belege (sprich: Fotos) für die "Armeestatistik" zu liefern. Die späteren Berichte von Hersh und vor allem die Bilder von Haeberle haben letztlich nicht unwesentlich zum Abzug der Amerikaner aus Südvietnam und damit zur Niederlage der Supermacht auf dem Kriegsschauplatz in Indochina beigetragen. Die Vereinigten Staaten, deren Propaganda in zwei Weltkriegen demonstriert hatte, wie man den Kriegsgegner systematisch dämonisiert (vor allem Japaner und Deutsche), standen nun wegen ihrer Kriegführung in Indochina selbst am Pranger. Eine ungewohnte Situation, mit der die politische Führung der Vereinigten Staaten sichtlich nicht fertigwurde (Stichwort "Vietnam-Trauma").

Dies gilt auch für die Konsequenzen, denen sich Leutnant Calley nach Bekanntwerden des Massenmordes in My Lai ausgesetzt sah. Calley, der im übrigen der einzige war, der überhaupt wegen der Vorgänge in My Lai verurteilt wurde, wurde am Ende März 1971 wegen der vorsätzlichen Tötung von 22 Zivilisten zu lebenslanger Haft verurteilt. Über dieses Urteil mußte sich Calley allerdings nicht lange den Kopf zerbrechen, denn bereits einen Tag später verfügte US-Präsident Nixon seine Haftentlassung. Er erhielt lediglich "Hausarrest". Nach dreieinhalb Jahren, im November 1974, wurde Calley schließlich begnadigt. Er nutzte seinen "Hausarrest" für das Abfassen einer Autobiographie, die den bezeichnenden Titel "Ich war gerne in Vietnam" trägt und im September 1971 veröffentlich wurde (die deutsche Fassung erschien 1972). Calley konnte sich im übrigen nach Bekanntwerden des Massakers vor Solidaritätsbekundungen kaum retten. Nach seiner Verurteilung wurde zum Beispiel eine Schallplatte mit einer "Battle Hymn of Lieutenant Calley" veröffentlicht, die etwa 200.000 Mal verkauft wurde. Eine Umfrage kam zu dem Ergebnis, daß zwei Drittel der Befragten wegen der Vorgänge in My Lai "keinen Grund zur Aufregung" sahen. 

Daß gerade My Lai, das Noam Chomsky vor dem Hintergrund der rücksichtslosen Flächenbombardements der US-Luftwaffe in Vietnam mit Recht eine "Fußnote" nannte, zum Symbol der "Inhumanität" der US-Kriegführung in Vietnam werden konnte, liegt wohl auch in der Macht der Bilder begründet. Ron Haeberles Farbfotos, die ab November 1969 um die Welt gingen, gaben den Opfern von My Lai ein Gesicht und erschütterten die Selbstgewißheit vieler Amerikaner, moralisch immer auf der "richtigen Seite" zu stehen.

Foto: Die 73jährige Überlebende Ha ThiQuy (M.) erklärt Journalisten 1998 in My Lai, wie sich das Massaker dreißig Jahre zuvor zugetragen hat: "Ich hatte meine Waffe auf Automatik gestellt"

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen