© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Experiment im Niemandsland
Konstrukt ohne Wirklichkeit: Dennis Gansels gescheiterte Neuverfilmung von "Die Welle"
Martin Lichtmesz

Morton Rhues Roman "Die Welle" und dessen Verfilmung aus dem Jahr 1981 gehören seit zwei Jahrzehnten zum Standardarsenal des bundesdeutschen Bewältigungsunterrichts - in einer Phalanx mit Anne Franks Tagebuch, Judith Kerrs rosa Kaninchen und "Schindlers Liste", wie die Tochter von Alt-Bundespräsident Rau einmal in einem Interview ("Der zweite Weltkrieg nervt mich extrem") zu Protokoll gab. "Die Welle" handelt von einem US-amerikanischen Lehrer, der seinen  Schülern begreiflich zu machen versucht, warum die Deutschen Hitler folgten, die Judenverfolgung unterstützten und sie anschließend "verdrängten".

Zunächst nur spielerisch beginnt er, in der Klasse neue Regeln durchzusetzen, die den Zweck haben, die Schüler straffer zu disziplinieren. Gemeinschaftsstärkende Rituale werden eingeführt sowie ein eigener Gruß, ein "Logo" und ein Name für die neue "Klassengemeinschaft" erfunden: "die Welle". Ihre Parole: "Macht durch Disziplin, Macht durch Gemeinschaft, Macht durch Handeln!"

Die Reaktion der Schüler ist enthusiastisch. Ihre schulischen Leistungen steigern sich schlagartig. Schüler aus anderen Klassen schließen sich an. Gleichzeitig wächst der Konformitätsdruck. Verweigerer werden sozial geächtet oder gar gewalttätig angegriffen. Die Adventstimmung ist auf dem Höhepunkt, als der Lehrer eine Großversammlung einberuft. Er kündigt an, nun den Führer der "Welle" zu präsentieren. Unerwartet erscheint Adolf Hitler als Filmprojektion vor den geschockten Schülern, die nun beschämt erkennen, wie leicht sie zu manipulieren waren.

Was wie eine didaktische Fiktion klingt, soll sich im April 1967 in einer kalifornischen Schule tatsächlich zugetragen haben. Der Lehrer Ron Jones publizierte 1972 einen Artikel über das Experiment, der die Grundlage für Rhues Roman lieferte. Jones wollte demonstriert haben, wie die schlummernde "faschistische" Mentalität zu wecken und effektiv zu steuern sei. Die packende Geschichte hat allerdings einen entscheidenden Schönheitsfehler: Sie kann sich in der überlieferten Form nicht zugetragen haben. Eine kritische Lektüre von Jones' Bericht offenbart zahllose Unglaubwürdigkeiten und Widersprüche. Zu glatt gehen unterm Strich alle Gleichungen auf, zu lehrbuchhaft sitzt die erfahrene Lektion. Jones ist die einzige Quelle für die Geschichte in dieser Version; bisher hat sich noch kein einziger ehemaliger Schüler gefunden, der sie bestätigt hätte. Vermutlich hat er sein Experiment ausgeschmückt und "frisiert", um eine faszinierende These zu lancieren. "Die Welle" ist eine urban legend, mit der Jones eine lukrative Karriere gemacht hat.

Auch Regisseur Dennis Gansel ("Napola") weiß, daß man sich mit nichts wichtiger machen kann als mit Warnungen vor dem "Faschismus". Seine Neuverfilmung versetzt den Stoff in die Gegenwart. Das Drehbuch versucht immerhin zu berücksichtigen, daß Kalifornien 1967 und Deutschland 2007 grundverschiedene Ausgangspunkte sind. Im Gegensatz zu Rhues und Jones' Schülern, die wenig über das "Dritte Reich" wissen, hängt den heutigen deutschen Gymnasiasten die NS-Aufklärung zum Halse raus. Zusätzlich gelten Disziplin und Autorität als verpönt, Kiffen und Saufen sind normale adoleszente Praxis, ein bißchen Nationalstolz dank der letzten Fußball-WM allerdings auch wieder okay.

Nichtsdestotrotz schafft es der von seinen Schülern lässig geduzte Rainer Wenger (Jürgen Vogel) innerhalb von wenigen Tagen nicht nur, daß seine Zöglinge ihn siezen und dabei aufstehen, wenn sie ihn ansprechen. Sie ziehen auch noch begeistert uniforme weiße Hemden an und opfern ihre ganze Freizeit der "Welle". Eine dezidiert politische Ausrichtung erfährt der neugewonnene Schwung erst bei der Großversammlung, als es kalkulierte Parolen radikal-egalitärer und antikapitalistischer Färbung hagelt. Am Schluß offenbart Wenger der aufgehetzten Meute: "Das ist Faschismus!" Dem folgt eine Katastrophe. Der Film endet mit einer Großaufnahme von Wengers ratlosem und schuldbeladenem Gesicht. Diesmal also keine naiv aufklärerische Antwort wie in der alten Verfilmung, sondern ein Fragezeichen?

Unbequeme, ja subversive Fragen wären reichlich vorhanden. Wenn die Schüler zunächst gegen Selbstverständlichkeiten wie respektvollere Umgangsformen protestieren, als hätte man ein Menschenrecht verletzt, wirkt das komisch. Wenn sie durch Wengers Maßnahmen aus ihrem Schlendrian erwachen, und plötzlich motivierter und effektiver lernen, wirkt das wie eine konservative Kritik am Erbe der "progressiven" Erziehung. Wenn sie sich sozial wie menschlich verbrüdern und endlich einen Sinn in ihrem Leben erblicken, wirft das bohrende Fragen an den gesellschaftlichen Überbau auf. Und daß eine rastalockige, von kleinkarierten PC-Affekten strotzende Schülerin gleich einem konditionierten Köter als einzige immun und "kritisch" bleibt, wirkt wie eine (unbeabsichtigte?) bösartige Pointe. Um die "Welle" - quod erat demonstrandum - als "gefährlich" erscheinen zu lassen, muß Gansel analog zu Jones' Manipulationen zu dramaturgischen Verrenkungen greifen. Genauer betrachtet scheitert sie nicht an zuviel, sondern an zuwenig Disziplin, an menschlichen Schwächen, privaten Konflikten und der bewußten Steuerung Wengers. Der verzweifelte Ausruf eines Schülers, der sich um seinen neuen Lebenssinn betrogen sieht: "Es war nicht alles schlecht an der Welle!", bleibt unbeantwortet. "Die Welle" ist ein implizites Plädoyer für fortgesetzte Antifa-Konditionierung und die Erziehung zur Mittelmäßigkeit, offenbar um ein leistungsarmes, dafür aber extremismusresistentes juste milieu zu garantieren.

Gansels Film ist selbst eine gescheiterte Versuchsanordnung. Sein reißbrettartiges Szenario bleibt ein bloßes Konstrukt mit nur wenig deutscher Wirklichkeit. Dazu paßt die merkwürdige Niemandsland-Stimmung des Films, der in einer namenlosen, imaginären Stadt spielt. In Deutschland wurde zuviel Erfahrung mit totalitären Systemen und Konformitätszwang gemacht, um ernsthaft ansetzen zu können wie Rainer Wenger. Gansels Teenagern, die offenbar "Die Welle" nicht gelesen haben und die seltsamerweise keinerlei Erinnerung an die DDR besitzen, nimmt man die plötzliche Begeisterung für Werte, die hierzulande tagaus tagein verdächtigt werden, nicht ab. Sollten zukünftige Generationen von Schülern nun mit dieser windschiefen Neuverfilmung des berüchtigten Stoffes gequält werden, so dürfte die pädagogische Wirkung aufgrund mangelnder Glaubwürdigkeit gering ausfallen.

Fotos: Lehrer Rainer Wenger (Jürgen Vogel) fordert die Schüler letztmalig zum Welle-Gruß auf: "Es war nicht alles schlecht!"; Anke Wenger (Chistiane Paul) kritisiert ihren Mann Rainer; die Welle-Mitglieder (r.) legen sich mit den Anarchos an: Windschief

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen