© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/08 21. März 2008

Die wirkungslose Arznei des Schreibens
Lorbeer und Kopfschuß: Martin Walser läßt den alten Goethe als unerfüllt "liebenden Mann" auftreten
Harald Harzheim

Wenn ein Greis sich in einen Teenager verliebt, ist das tragisch. Denn diese Liebe ist höchstwahrscheinlich seine letzte und bleibt - ebenso wahrscheinlich - unerfüllt. Noch schlimmer, wenn diese finale Liebe zugleich die erste ist! Wenn er erst kurz vor dem Tod erstmalig die Erfahrung wirklich tiefgehender Emotionalität macht. Das entwertet nicht nur die unerfüllte Zukunft, sondern rückwirkend auch die Vergangenheit. So geschehen beim 73jährigen Goethe, der 1823 in Marienbad der 19 Lenze zählenden Ulrike von Levetzow verfiel. Diese quälende Altersliebe ist Thema von Martin Walsers neuem Roman "Ein liebender Mann".

Walser kennt sich in diesem Thema aus. Schon seine Novelle "Ein fliehendes Pferd" (1978) handelte vom Begehren des Mittvierzigers Helmut Halm für die zwanzig Jahre jüngere Helene. In dem Roman "Angstblüte" (2006) schwoll die Differenz zwischen Karl von Kahn und seiner Geliebten Joni bereits auf 38 Jahre. Aber mit dem Paar Levetzow/Goethe ist der bisherige Gipfel erreicht: 54 Jahre Altersunterschied. Im Gegensatz zu zahlreichen "hartnäckig generalisierenden" (Walser) Kritikern, die ihm "Altersgeilheit" unterstellen, respektiert der Autor den Eros des Alters. Deshalb wollte er diesmal keinen komischen, sondern einen ernsten Text verfassen. So ganz gelungen ist das jedoch nicht ...

Nie wieder Rokoko, nie wieder das Leben als Spiel

In "Ein liebender Mann" ist das Begehren des Visualisten Goethe vor allem eine Augensache. Es sind Ulrikes Sehorgane, in die er sich verliebt, als er durch Marienbad promeniert und mit dem befreundeten Grafen Sternberg über seine Farbenlehre debattiert. Bis ins Detail erforscht er ihre Augen. Das Problem ist nur: Er kann sie gar nicht so deutlich gesehen haben!

Denn die Angebetete steht weit entfernt, und der alte Goethe litt unter Kurzsichtigkeit, die er als Brillenhasser nicht mit geschliffenen Gläsern korrigieren wollte. Sein Haß auf optische Instrumente - aufgrund dessen er Newtons exakter Farbenlehre‚ eine eigene, höchst "unscharfe," intuitive entgegenstellte - zwingt den Verstand zu einer fatalen Kompensationsleistung. Walser spricht es nicht aus, aber die Prämissen erlauben keinen anderen Schluß: Goethe hat das Objekt seiner Begierde nicht (deutlich) gesehen, sondern phantasiert.

Als lebendes Monument, mit dessen Kopfhaar schon heimlich Reliquienhandel betrieben wird, ist er jedoch mit reichlich Selbstbewußtsein ausgestattet. Deshalb scheint ihm die neue Liebe das Image "als Günstling des Schicksals" erneut zu bestätigen. Tatsächlich gelingt es ihm, die junge Ulrike mit seiner Sprachakrobatik zu faszinieren - sie, die Physik und Chemie als ihre Lieblingsfächer bezeichnet, weil in deren Versuchsanordnungen "etwas passiert", sprich "Wahlverwandtschaften" zutage treten. Es sind nicht nur solche Anspielungen, die den greisen Dichter glauben lassen, in der jungen Frau eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Nun hat Walser sie wahrhaftig zur Traumfrau stilisiert - jung, dynamisch, wunderschön, elegant, schlagfertig mit rasiermesserscharfem Verstand: die "neue Eva" par excellence. In Diskussionen ist sie dem Dichter nicht nur gewachsen, nein, sie parodiert seine Rhetorik und schlägt ihn um Längen.

Die Eruption der Begegnung löst in Goethe einen Kulturschock aus: nie wieder Rokoko, nie wieder das Leben als Spiel betrachten. Seine Harmoniesucht, die Flucht in die Sprache, das Suhlen in "hehren" Metaphern, seine kernigen Aphorismen, all das ist jetzt nutzlos. Statt dessen steigende Selbstzweifel und schmerzhafte Erkenntnis der unüberbrückbaren Differenz zwischen Literatur und Realität. Während sein Werther sich erschießen konnte, muß dessen Erfinder am Leben bleiben und sich die wirkungslose Arznei des Schreibens verordnen.

Zur Veranschaulichung dieser Differenz erfindet Walser eine geniale Szenerie: Goethe und Ulrike besuchen als Werther und Lotte verkleidet einen Kostümball. Im Lauf des Abends stolpert der greise "Werther", stößt sich eine blutige Wunde in den Kopf. Bei der späteren Preisverleihung - beide gewinnen als Bestkostümierte - hält Goethe eine Dankesrede. Darin vergleicht er seine Platzwunde mit dem Einschußloch des selbstmörderischen Romanhelden. Dann setzt er sich den Siegerlorbeer auf. Eine prächtige Mischung aus Kitsch und Dichtermythos, äußerem Triumph und innerer Verzweiflung.

Die zweite Hälfte des Romans widmet sich Goethes Verarbeitung seiner späten Liebe. So entstehen auf der Heimfahrt nach Weimar die "Marienbader Elegien", für Walser "das gewaltigste Liebesgedicht in deutscher Sprache".

"Das ist überhaupt Freiheit, lieblos sein, freudlos, leblos"

Die Briefe an Ulrike, die sie kurz vor ihrem Ableben verbrannte und als Asche in ihr Grab nahm, erleben eine spekulative Rekonstruktion als tagebuchartige Phänomenologie der eigenen Qualen.

Nur selten liest sich das finale Erlöschen der Liebesglut befreiender als hier: "Eine Leichtigkeit, die er noch nicht empfunden hatte. Die hieß Lieblosigkeit. Ja. Nie gekannt. Nie erlebt. Aber anders konnte er dieses Gefühl nicht buchstabieren. Er war frei. Lieblosigkeit, spürbar, eine Geräumigkeit wie noch nie, bitte, sei's Leere, eine Nichtempfindung, die alle Empfindungen übertraf, er ist erlöst, frei, das ist überhaupt Freiheit, lieblos sein, lieblos, freudlos, leblos, schmerzlos, ihn wird nie mehr jemand quälen können. Auch er selbst nicht. Die Kreatur ist erlöst."

Gerade fängt man an, sich über den Erfolg des emotionalen Selbstmords mitzufreuen, als Walser im letzten Satz alles wieder zum Einsturz bringt. Goethe bettet sich zur Nachtruhe, schläft "ohne Unterbrechung weit in den nächsten Tag hinein. Als er aufwachte, hatte er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wußte er, von wem er geträumt hatte." Die Freiheit wird also noch eine Weile auf sich warten lassen.

In jungen Jahren stand Walser in scharfer Opposition zu dem Weimarer Klassiker. Erst ab 1981 begann mit dem Eckermann-Drama "In Goethes Hand" ein langer, kontinuierlicher Prozeß des Verzeihens und Aussöhnens, der nun zum Höhepunkt gekommen ist. In einem Stern-Interview bezeichnet Walser Goethe als "unser größtes Stück".

Bei soviel Bewunderung bleibt natürlich manche Seite des historischen Dichters ungesagt. So gibt der Roman dessen grausame Züge - die sich zum Beispiel in der Befürwortung des Todesurteils gegen die junge Kindsmörderin Anna C. Höhn zeigten - kaum zu erkennen. Walsers Goethe ist ein Stratege, der bei allem die Wirkung berechnet, der gesellschaftliche Etikette genauestens beachtet. Auch bei saloppem Umgang mit historischen Fakten liefert Walser eine loyale Präsentation des Dichters, ohne dessen Selbstdarstellung nachträglich zu untergraben.

So liest sich "Ein liebender Mann" weniger als biographischer Roman, wohl aber als Antithese zum modernen Jugendkult und damit einhergehender Altersverdrängung sowie als Porträt eines Menschen, dessen Lebensmodell eine unvorhersehbare Sprengung erfährt. Der damit verbundene Schmerz ist so gewaltig, daß der einzige Ausweg Restauration heißt. Letzteres ist eine Erfahrung, von der keine Altersstufe verschont bleibt.

Bilder: Ulrike von Levetzow (anonymes Pastellgemälde, 1821), Johann Wolfgang von Goethe (Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828): So deutlich konnte er das Objekt seiner Begierde gar nicht sehen

Martin Walser, der am kommenden Ostermontag seinen 81. Geburtstag feiern kann, ist nicht nur Deutschlands sprachschöpferisch begnadetster Großschriftsteller, er ist auch ein Publikumsliebling. So ist nach Auskunft der Pressechefin des Rowohlt-Verlags gegenüber der JF die Startauflage von 100.000 Exemplaren seines jüngsten Romans "Ein liebender Mann" bereits drei Wochen nach seinem Erscheinen vergriffen.

Martin Walser: Ein liebender Mann, Rowohlt 2008, gebunden, 286 Seiten, 19,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen