© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/08 21. März 2008

Der Dämon des Trivialen
Theater: Botho Strauß' "Groß und Klein" beweist ungebrochene Aktualität
Harald Harzheim

Botho Strauß gehört seit seinem 1972 uraufgeführten Debüt als Dramatiker mit dem Stück "Die Hypochonder" zu den meistgespielten zeitgenössischen Bühnenautoren, und auch fünfunddreißig Jahre später versorgt er die Theater (und den Buchmarkt) regelmäßig mit frischen Texten. Dagegen ist es selten, daß man frühere Werke des heute 63jährigen Büchnerpreisträgers nachspielt.

Dies ist im Deutschen Theater in Berlin jetzt mit "Groß und klein" geschehen - einer Komödie, die 1978 in einer Inszenierung von Peter Stein an der Schaubühne zur Premiere kam. Das stellt zwangsläufig die Frage nach der Aktualität der 78er-Gesellschaftsdiagnose und konfrontiert das Stück mit einer rückblickenden Selbstdarstellung des Autors: "Ich möchte ein Gebärdensammler gewesen sein. Ein Palimpsest-Leser, der bei jedem Durchschnittsmenschen die Urschrift eines großen Lebens fand. Dafür nutzte ich das Theater als Medium im Wortsinn: das den Durchschein verkörpernde."

Dies trifft auf "Groß und klein" nur bedingt zu. Denn dessen Heldin, Lotte, unterscheidet gerade von ihrer Umgebung, daß sie ihren "mythischen Urtext" erkennt, ihre Sehnsucht selbst im Scheitern leben läßt, während alle anderen im Durchschnitt versumpfen. Lotte, das ist eine klassische Botho-Strauß-Heldin, eine Vorläuferin der Marie Steuber aus "Die Zeit und das Zimmer" (1988): eine jener einsamen Frauen, deren verzweifelte Ausbruchversuche aus moderner Beziehungslosigkeit scheitern.

Denn sie trifft auf Menschen, die ihre Annäherung als lästig, als pure Aufdringlichkeit erleben: auf Erwachsene, die frustriert in ihrem Narzißmus, ihrer Langeweile, ihrer Pedanterie ersticken, auf Verängstigte oder Unterkühlte, die in Arbeitswut und Lethargie versinken, und auf Kinder, die - unter einem Zelt versteckt - isoliert umherlaufen. Anteilnahme funktioniert über aufdringliche Neugier (gegenüber dem Nachbarn) oder als aggressive gegenseitige Seelenzergliederung.

Strauß entwirft Situationen zwischen Komik und Kränkung, so wenn Lotte eine Bekannte aufsucht, die sie rüpelhaft über die Sprechanlage der Haustür abserviert. Aber solch direkt-aggressiven Momente lassen weniger verzweifeln als die kollektive Besessenheit vom Dämon der Trivialität.

Da wird ein existentiell bedeutsames Gespräch durch die Aufforderung unterbrochen, endlich die Gebühren für den Lesezirkel zu bezahlen. Oder als Lottes Schwägerin sich in Enttäuschung über ihren Mann ausheult, achtet ihr Vater darauf, daß ihr nicht die Bluse aus der Hose rutscht. Später entrüstet sich Lottes Liebhaber, daß sie - in einem Anfall dichterischer Freiheit - anstelle von "lieben" halt "liebigen" schreibt.

Lottes Ausweg aus dieser Hölle gleicht dem des Autors. Der lebt inzwischen zurückgezogen als "protestantischer Mystiker" (Botho Strauß) in der Uckermark. Und auch Lotte gibt sich eine mystische Identität - als eine jener 36 Gerechten, um derentwillen Gott diese Welt nicht zerstört, die aber verborgen bleiben, die keiner erkennt.

Zuletzt sehen wir sie im Wartesaal einer Arztpraxis. Alle sitzen starr und steif auf ihren Stühlen, folgen gehorsam dem Aufruf ihres Namens. Nur Lotte turnt auf ihrem Sitzplatz, räkelt sich amüsiert. Sie beobachtet bloß, schließlich "fehlt ihr ja nichts", wie sie inzwischen weiß; die Kranken, das sind die anderen. Die Wertungsdualismen "Groß und klein", Gewinner und Verlierer, gesund und krank, haben endlich ihre Umwertung erfahren. So hat Lotte sich durch das mystische (Selbst-)Bewußtsein fürs erste gerettet.

Nina Hoss verschafft der Lotte bei aller Ironie tatsächlich das Charisma einer "Heiligen", die aller Widrigkeit zum Trotz ihre Liebessehnsucht nicht verraten kann, darin der gefallenen Titania aus Strauß' späterem "Park" (1984) zum Verwechseln ähnlich. Durch die Leistung dieser Schauspielerin glaubt nicht nur Lotte an ihr Auserwähltsein, sondern auch das Publikum.

Für den harten Kontrast zwischen Lotte und der Außenwelt sorgte die Regisseurin Barbara Frey, die sich seit ihrer "Ubu"-Inszenierung (1999) an der Schaubühne als begabte szenische Karikaturistin bewies. Sie präsentiert Lotte auf dunkler Bühne (verantwortlich: Bettina Meyer) inmitten unerträglicher Schießbudenfiguren.

Nun hat die Inszenierung fraglos ihre Längen, zumal Strauß' Episodendrama sein zentrales Thema nur geringfügig entwickelt, statt dessen aus verschiedenen Perspektiven endlos variiert. Auch trägt es den langsamen Rhythmus der damaligen Schaubühnen-Ästhetik noch in sich, eine Anpassung an heutiges Zeitgefühl durch Straffung und Streichung hätte sicher gutgetan. Dennoch, der Beweis seiner Aktualität ist erbracht. Aber vielleicht sollte man statt "aktuell" lieber "zeitlos" sagen. Denn gelingende Kommunikation war und ist immer die Ausnahme.

Die nächsten Aufführungen von "Groß und klein" im Deutschen Theater, Schumannstr. 13a, finden statt am 21. März um 16 Uhr sowie am 5., 12., 17. und 26. April jeweils um 19.30 Uhr. Telefon: 030 / 2 84 41-221

Foto: Nina Hoss (als Lotte) und Margit Bendokat: Die Kranken, das sind die anderen

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