© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

"Ich habe die Konsequenzen gezogen"
Immer mehr Eltern kehren den staatlichen Schulen enttäuscht den Rücken. Eine Mutter berichtet von ihren Erfahrungen
Moritz Schwarz

Frau Graf, haben Sie noch Vertrauen in die staatliche Schule?

Graf: Nein. Zum einen habe ich kein Vertrauen mehr bezüglich der Bildungspolitik der Bundesrepublik. Zum anderen habe ich, da Bildung in Deutschland Ländersache ist, noch weniger Vertrauen in die Schulbildung hier in Mecklenburg-Vorpommern. Würden wir allerdings zum Beispiel in Baden-Württemberg wohnen, sähe die Sache schon anders aus. Aber ich habe hier meine Erfahrungen gemacht und für mich die Konsequenzen gezogen.

Sie haben drei Ihrer vier Kinder von der staatlichen Schule genommen und lassen sie heute eine Privatschule besuchen.

Graf: Natürlich gab es dafür eine Anzahl von Gründen. Was mich aber wirklich erschreckt hat, war die Einführungsveranstaltung am örtlichen Gymnasium, die lustlose Berufsauffassung, das "Engagement" dort: Einerseits dämpfen schlechte Schüler das Niveau, andererseits nimmt man aber auch kaum Rücksicht auf Schüler, die Probleme haben. Ich hatte das Gefühl, der Schüler wird mitunter allein gelassen: "Fördern" wird klein geschrieben - sowohl was schwache Schüler, die über-, wie auch, was gute Schüler angeht, die unterfordert sind. Eine Schulkameradin meiner Tochter sprach einmal in der Pause den Chemielehrer an, weil sie Schwierigkeiten mit dem Stoff hatte. Sie berichtete, der Mann habe noch nicht einmal von seiner Zeitung aufgeschaut. Ein Einzelbeispiel, ich weiß.

Warum legten die Lehrer dieses gleichgültige Verhalten an den Tag?

Graf: Weil sie, wie der Schulleiter es damals lax erklärte, selbst frustriert sind. In Mecklenburg geben die Lehrer eine Empfehlung für die weiterführende Schule, die Entscheidung treffen die Eltern. Die Dreiteilung in Haupt-, Realschule und Gymnasium funktioniert so nicht mehr: Das Gymnasium wird von vielen Kindern besucht, die eigentlich auf einer Realschule glücklicher wären. Im Gegensatz dazu fehlen diese Schüler wieder auf der Realschule. Ich vergleiche die Realschule mit der Polytechnischen Oberschule der DDR. Mit einem guten Abschluß sollte man alle Möglichkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder ein Fachgymnasium zu besuchen. Heute quälen sich aber viele durch das Abitur, die später gar nicht studieren wollen, nur um einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Sie befürchteten, daß Ihre Kinder auf der staatlichen Schule nicht genug lernen?

Graf: Nein, aber daß sie vielleicht die Lust und Freude am Lernen verlieren könnten, wenn zuwenig Engagement und Förderung vorhanden sind. Bildung ist nicht nur das Vermitteln von Wissen, sondern ebenso von sozialen und kulturellen Kompetenzen, im weiteren Sinne auch Erziehung. Meine Tochter fand nach Kontakt mit ehemaligen Mitschülern den Umgangston rüde und war dann froh, die Privatschule zu besuchen, weil dort auch auf solche kulturellen Werte geachtet wird.

Also liegt das Heil in den Privatschulen?

Graf: Das würde ich pauschal so nicht sagen. Zum einen gibt es bestimmt auch prima funktionierende staatliche Schulen in Deutschland. Zum anderen haben wir auch schon mit Privatschulen schlechte Erfahrungen gemacht. Meine beiden mittleren Kinder besuchten die evangelische Grundschule, gegründet 2001 von einer Elterninitiative zusammen mit der evangelischen Kirche. Unterrichtet wurde reformpädagogisch, zum Beispiel nach dem Konzept "Lesen durch Schreiben" des Schweizer Pädagogen Jürgen Reichen. Nach diesem Experiment war ich so entsetzt, daß die jüngste Tochter nun die staatliche Grundschule besucht, wo sie mit großem Erfolg auf herkömmliche klassische Art und Weise lernt. Privatschule ist sowenig gleich Privatschule, wie staatliche Schule gleich staatliche Schule ist.

Für viele Eltern ist die Schülergewalt an staatlichen Schulen ein Grund, auf Privatschulen auszuweichen.

Graf: Gewalt war in meiner Wahrnehmung hier bisher kein Problem, relevant erscheint es mir vielmehr in bestimmten Ballungsgebieten mit einem sehr hohen Ausländeranteil zu sein. Wenn ich in den Medien die Berichte über das Ausmaß der Gewalt an solchen Schulen lese, dann bekommt man es schon mit der Angst.

Sie selbst sind in der DDR in die Schule gegangen.

Graf: Ich muß sagen, daß ich - wenn man mal den ideologischen Gehalt außen vor läßt - im Rückblick mit dem DDR-Schulsystem zufriedener bin als mit dem Schulsystem, mit dem meine Kinder heute konfrontiert sind. Ich habe erkennen müssen, wie wichtig Disziplin, verbindliche Inhalte und Systematik doch sind, an denen es uns heute nach meiner Auffassung an staatlichen Schulen, ebenso aber auch an vielen Schul-Alternativen mangelt. Ferner weiß ich heute den klassischen Frontalunterricht und die effiziente Vermittlung von Wissen wieder zu schätzen anstatt der dauernden Projekte, der Schülerreferate, die ganze Stoffeinheiten ersetzen sollen, der Freiarbeiten usw. - es gibt da ja inzwischen die hanebüchensten Schüler-Projekte! Man hat offenbar vergessen, daß Kinder zuerst einmal das Lernen lernen müssen, und zwar an substantiellen Inhalten, und daß der Lehrer ihnen deshalb als Autorität gegenübertreten muß und nicht als Kumpel oder gar nur als Moderator oder "Coach".

Diese Werte haben sie an den Schulen in der DDR noch gefunden?

Graf: Es ist schon erstaunlich, aber nachdem ich 1990 aus einem sozialistischen Staat in die Demokratie gekommen bin, mußte ich feststellen, daß das DDR-Schulsystem mehr konservative Tugenden und verbindliche Werteorientierungen - auch jenseits des "Sozialistischen" - bot als der angeblich bürgerliche und leistungsorientierte Westen. Heute bin ich über unsere Politiker reichlich enttäuscht, die weiter auf Konzepte setzen, offenbar nur weil sie zeitgeistig en vogue sind, obwohl längst klar ist, daß sich viele davon nicht bewährt haben. Beläßt man die Bildung in der Hoheit der einzelnen Bundesländer, was ich fragwürdig finde, so bedarf es mindestens klarer Richtlinien auf Bundesebene, die über die vagen Formulierungen der Kultusministerkonferenz hinausgehen müssen. Bildung sollte eine prioritäre nationale Angelegenheit sein.

 

Ute Graf ist Mutter von vier Kindern. Sie entschied sich  nach Erfahrungen mit staatlichen Schulen für ein privates Gymnasium. Geboren wurde die gelernte Schriftsetzerin und Diplom-Biochemikerin 1964 in Ost-Berlin. Heute lebt die Familie bei Stavenhagen in Mecklenburg.

 

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