© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Abstimmung mit den Füßen
Bildungspolitik: Das Territorialprinzip, das die Einschulung am Wohnort vorschreibt, schlägt immer mehr Eltern in die Flucht
Michael Paulwitz

Die Schwiegermutter auf dem Killesberg ist Gold wert in Stuttgart. Denn auch die zur "Integrationsstadt" erklärte reiche Schwabenmetropole kennt die Schattenseiten multikulturellen Großstadtlebens: steigende Jugendkriminalität und migrationshintergründige Problemschulen, an denen sich verhaltensauffällige, sprach- und integrationsverweigernde Schüler konzentrieren. Wer kann, erspart seinem Kind die damit verbundenen interkulturellen Erfahrungen - da gibt es keinen Unterschied zwischen der baden-württembergischen Kapitale und der Bundeshauptstadt Berlin.

Glücklich, wer da einen nahen Verwandten im Schulbezirk einer "besseren Gegend" vorweisen kann, den er gegenüber dem Schulamt als Betreuungsperson und Schulabholer deklarieren und damit die erwünschte Einschulung im wohnortabweichenden Sprengel begründen kann. Denn auch wenn es an den Stuttgarter Grundschulen mit Ausländeranteilen von über siebzig, achtzig Prozent mehr Sozialarbeiter geben mag als in Neukölln: Im Zweifelsfall ziehen die meisten Eltern denn doch Bildungseinrichtungen vor, die als Zusatzangebote Mal-AG, Schulchor oder Instrumentengruppe anstelle von Konfliktschlichtern und migrantengerechter Hausaufgabenbetreuung vorweisen können und an denen ihre Kinder mit japanischen Violinsolistentöchtern oder französischen Managersöhnen statt mit türkischen oder arabischen Ghettokids die Schulbank teilen können.

Das Territorialprinzip, das die Einschulung zwingend im zum Wohnort gehörigen Grundschulbezirk verlangt, veranlaßt immer mehr Eltern zur Suche nach Hintertüren und Auswegen. In Nordrhein-Westfalen hat die schwarz-gelbe Landesregierung als Konsequenz aus der wachsenden Antragsflut in der Schulgesetznovelle die Aufhebung der Grundschulbezirke zum August dieses Jahres durchgesetzt. Einige Städte haben bereits von der Vorreitermöglichkeit Gebrauch gemacht und den Bezirkszwang schon im letzten Jahr aufgehoben - oft unter wütendem Protest von SPD, Grünen und Linkspartei, die unisono vor einer Verschärfung der "sozialen Segregation" warnten. Ob sich die Bedenken des Städte- und Gemeindebunds vor erheblichem bürokratischen Mehraufwand bewahrheiten, wird sich im kommenden Schuljahr weisen; die Erfahrungen in Kiel, wo bereits 1997 die Grundschulbezirke aufgehoben wurden, sprechen eher nicht dafür.

Wo kein Territorialzwang herrscht, nimmt die "Abstimmung mit den Füßen" bisweilen schon panikartige Züge an. Vor drei Jahren machte in Berlin-Kreuzberg die Eberhard-Klein-Oberschule als erste hundertprozentig "deutschenfreie" Schule Schlagzeilen. Ethnische Konflikte, sagte damals der Rektor, gebe es immerhin kaum noch; die letzten deutschen Eltern hätten ihre Kinder sofort nach der Aufnahmefeier von der Schule genommen, und "verirren" sich doch noch welche zu ihm, rate er ihnen gleich zu einer anderen Schule.

Die meisten Eltern freilich bedürfen solcher Ermunterungen nicht, wie sie selbst der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) indirekt bestätigte, der jüngst kundtat, lebte er in Kreuzberg, würde er seine Kinder - hätte er denn welche - dort auch nicht zur Schule schicken. Vor allem die Hauptschulen bluten aus und verkommen zur Rest- und Problemschule. In Berlin haben im laufenden Schuljahr nur noch fünf Prozent der Eltern ihre Kinder an einer Hauptschule angemeldet; im Jahr davor waren es noch neun Prozent.

Dirigistische Lösungsansätze wie der vom Neuköllner Bezirksbürgermeister vorgeschlagene Bustransport der Kinder kreuz und quer durch die Hauptstadt, um die Ausländeranteile der einzelnen Schulen einander anzugleichen, wurden schon aus Kostengründen verworfen. Sie hätten auch nur den sozialexperimentellen Charakter der herrschenden Schulpolitik unterstrichen. Die neuerdings auch in CDU-Kreisen, beispielsweise in Hamburg, favorisierte Kaschierung des Problems durch Zusammenlegung der Hauptschulen mit Realschulen und Gymnasien zu "Gemeinschaftsschulen" gehört in diese Mottenkiste der Bildungsexperimente mit den Kindern als Versuchskaninchen.

Längst haben sozialdemokratische Bildungspolitiker nicht nur in Berlin  "die Eltern" als das eigentliche Problem erkannt: Sogar die "Genossen Eltern" weigerten sich schlicht, ihre Kinder auf die Gesamtschule statt aufs Gymnasium zu schicken. Jüngster prominenter Sündenfall ist die hessische SPD-Links­pionierin Andrea Ypsilanti. Ihr Sohn besucht eine der renommiertesten Privatschulen im Frankfurter Stadtteil Nieder-Eschbach - und nicht etwa eine öffentliche Gesamtschule, wurde ihr im Wahlkampf genüßlich vorgehalten.

Wo sich innerhalb des staatlichen Angebots keine Auswege aus der Bildungsmisere mehr finden, macht das Beispiel Ypsilanti zunehmend Schule. Der stete Zulauf für die Forderung nach Zulassung von Heimunterricht in elterlicher Eigenverantwortung ist dafür nur ein weiteres Indiz. Wo das staatliche Schulsystem Lücken läßt oder sich aus der Fläche zurückzieht, greifen Elterninitiativen immer häufiger zur Selbsthilfe und gründen Privatschulen.

Foto: ABC-Schützen auf dem Weg zur Schule: Erheblicher bürokratischer Mehraufwand

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