© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

"Bei uns gibt es auch mal Kloppe"
Bildungspolitik II: Die von der Sängerin Nena mitgegründete antiautoritäre "Neue Schule Hamburg" sorgt für Schlagzeilen / Am Sudbury-Konzept orientiert
Hannes Kiebler

Die großen Jungs haben mich getreten, an den Kopf und ins Gesicht", klagte ein zehnjähriger Ex-Schüler der "Neuen Schule Hamburg", die sich am antiautoritären Konzept der amerikanischen Sudbury Valley School orientiert (JF 20/07), in der vergangenen Woche gegenüber dem Stern. Damit gerät ein Projekt in die Schlagzeilen, das von seinen Initiatoren als Gegenentwurf zum staatlichen Schulsystem gedacht war. Vieles sollte anders und vor allem besser gemacht werden.

Die Sängerin Nena, die die Schule im vergangenen Jahr mitgegründet hatte, kommentierte die Vorwürfe mit den Worten: "Bei uns gibt es, wie an jeder anderen Schule, auch mal Kloppe." Von chaotischen Zuständen will sie nichts wissen. "Wir befinden uns in einer Hochphase, in der alles reibungslos läuft", sagte sie, und Focus Online zitiert die Sängerin mit der Ansage: "Bei uns herrscht ganz viel Liebe und Pioniergeist."

Etwas anders sehen das einige Eltern. "Die Kleinen wurden von den Großen gemobbt, die Lehrer sind nicht eingeschritten", klagt eine Mutter.

Während ein Kräftemessen unter Gleichaltrigen an Schulen üblich ist, sind Tritte und Schläge ins Gesicht und an den Kopf, von denen ein Ex-Schüler berichtet, die Überschreitung jener Grenze, die Kinder von Erwachsenen lernen sollen und die nur unter Anleitung sichtbar wird.

In den Sudbury-Schulen, die sich an dem englischen Reforminternat Summerhill orientieren, wird den "kleinen Menschen" die Verantwortung zugetraut, selbst über ihre Bildung zu entscheiden: Die Kinder wählen selbst, was und vor allem ob sie etwas lernen.

Die Schulgründer gehen in ihrem Konzept davon aus, daß "jeder Mensch ein Grundbedürfnis hat, Teil der Gesellschaft zu sein", und daß dadurch "automatisch irgendwann ein Impuls" ausgelöst wird, die Kompetenzen zu erlernen, die zur Weiterentwicklung der Gesellschaft notwendig sind. Die natürliche Neugierde der Kinder wird zur Grundlage des Lernens. Des weiteren werden die Schüler in organisatorischen Fragen "demokratisch" miteinbezogen und dürfen in der wöchentlichen Schulversammlung, in der Lehrer und Schüler je eine Stimme haben, die Schulregeln bestimmen.

Die Schule hat sechs Lehrer und 85 Schüler. Es gibt keine Lehrpläne, keine Klassen und keine Noten. Es gibt noch nicht einmal feste Unterrichtszeiten, die einen geregelten Tagesablauf garantieren und Kindern Halt geben. Ebenfalls innovativ ist die Konfliktbewältigung, bei der Verletzungen der  selbstgesetzten Regeln von einem "demokratisch legitimierten Lösungskomitee auf rechtsstaatliche Weise verhandelt" werden.

Kritiker jedoch weisen darauf hin, daß funktionierende Demokratie einen Bürger voraussetzt, der verantwortungsvoll mit seiner Stimme umgeht und sich der Folgen seiner Handlungen bewußt ist. Dieses Bewußtsein fordert eine geistige Reife, deren Entwicklung Zeit braucht und nur durch Erziehung und Bildung erreicht werden kann.

Viele Schüler finden an dem Konzept offenbar Gefallen, wie zum Beispiel Jonathan, der auf der Internetseite der "Neuen Schule" über seine alte Lehranstalt berichtet: "Ich mag die Lehrer nicht auf meiner Schule, weil sie mich anmachen, wenn ich nix gemacht habe", oder Corvin, der sich mehr Zeit erhofft, um unterirdische Höhlen zu graben, "weil wir ja bestimmen können, wie lange die Stunde ist und wie lange die Pause". Und Yannik weiß genau, was er will: "Hier kann man sich selbst verwirklichen. Die Neue Schule Hamburg hilft mir, rauszufinden, was ich wirklich machen möchte."

Alternative Schulkonzepte sind nichts neues und kamen bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit der sogenannten Reformpädagogik auf. Sie grenzten sich von autoritären Strukturen ab und entwickelten Konzepte der Erlebnispädagogik und des Lernens durch Handeln.

Summerhill- und Sudbury-Schulen gehen noch einen Schritt weiter. Ihnen zugrunde liegt eine egalitäre Ideologie, die sich gegen Leistungsstaffelung richtet. Keine Klassen, keine Leistungskontrollen und kein Zwang, heißt die Devise. Alles ist freiwillig. Kritiker warnen: Werden alle Schüler, egal welcher Begabung, zusammen unterrichtet, so habe das eine Senkung des Niveaus zur Folge. Vielleicht ist das ja auch eine Erklärung für den Gewaltausbruch in Hamburg.

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