© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Pankraz,
Menzel und das Wissen im Gestell

Eine Bestellung, die Pankraz harmloserweise aufgab, hat nicht geklappt, und dadurch geriet sein ganzer, an sich sonst wohlorganisierter Alltag zeitweise in arge Verwirrung. Jetzt scheint die Sache halbwegs ausgestanden, man kann sich vom konkreten Fall weg allgemeineren Überlegungen zuwenden. Was hat da eigentlich nicht geklappt? Wer hat da sein Bein dazwischen gehabt?

Der treffliche Martin Heidegger ist für solcherlei allgemeinere Rückfragen zuständig, sein ingeniöser Vortrag 1949 in Bremen über "Das Gestell", sein nicht minder inspiriertes Büchlein "Die Frage nach der Technik" von 1953. Was bedeutet es, so fragt Heidegger dort, wenn man sagt, daß im modernen, an "Technik" orientierten Alltag alles in Hinblick auf prompte Verfügbarkeit und Bestellbarkeit organisiert sei? Und er antwortet: Die Voraussetzung für solche Erwartung ist der "Bestand". Bestand heißt, daß die Produkte in eine Reihe gestellt und zahlenmäßig erfaßt sind, daß sie also auf einem "Gestell" untergebracht sind.

 In alten Zeiten mit "natürlichen", "offenen" Verhältnissen treten uns die Dinge vorrangig als "Gegenstand" vors Auge und vor die Hände; heute verlieren wir in vielerlei Hinsicht den direkten Bezug zu diesem Gegenstand, er verwandelt sich in "Bestand", den wir im Katalog nachschlagen und aus dem wir bestellen. Sicherlich, auch dieses ins Gestell Gebrachte ermöglicht eine Form von Offenheit, von Durchblick, Überblick, Blick auf das, was noch fehlt, weil es ausgegangen oder noch nicht eingegangen ist. Jedoch, (Zitat Heidegger): "Gestell ist jene Weise von Unverborgenheit, in der der Mensch das Wirkliche lediglich in der Weise des Bestellens als Bestand erfährt."

Man lasse sich von der angestrengt philosophischen Redeweise nicht täuschen! Heidegger offenbart hier eine erstens höchst aktuelle, zweitens geradezu schreiende Originalität. Normalerweise erwartet man ja, daß einer, der über neuzeitliche Technik nachzudenken beginnt, gewissermaßen an die Front geht, wie seinerzeit der Maler Adolph Menzel mit seinem epochemachenden Bild "Das Eisenwalzwerk", wo Arbeiter in zyklopischer Manier im Feuer herumrühren und das Bruttosozialprodukt steigern. Heidegger geht statt dessen (1949!) ins Lager, wandert an langen Gestellen entlang und registriert den Bestand.

Aber ist das nicht tatsächlich das wirklich Neue? Zyklopen, Alberiche am Schmiedefeuer (oder vor dem Computer), Sich-Abrackerer hat es immer gegeben. Aber die Vorratslager waren früher klein, man arbeitete meistens von der Hand in den Mund, und Gestelle gab es schon gar nicht, höchstens schlichte Regale. Die meisten Produkte lagerten auf der Erde, wenn sie überhaupt lagerten, nicht sofort abgeholt wurden.

Heidegger konstatiert durchaus, daß es neben den Gestellen auch noch weitere mehr oder weniger moderne Inkarnationen von Technik gebe: Gestänge,  Gerüste usw. Doch keine sei so kennzeichnend für die Gegenwart wie das Gestell. Mehr als bei den anderen Inkarnationen zeige sich bei ihm jener Zug zum Unheimlichen, prinzipiell Unvertrauten, der der entwickelten Technik von Anfang an innewohnte und von faktisch allen Literaten und Künstlern wahrgenommen wurde - das Frankenstein-Syndrom, das Bewußtsein eines eigentlich Monströsen, Unangemessenen.

Das Gestell steht nicht einfach im Lagerhaus, sondern es kommt, wenn wir aussuchen und abholen wollen, regelrecht auf uns zu, wir werden in es eingespannt, wir hängen und zappeln schließlich in ihm, selbst wenn wir dabei auf dem Gabelstapler sitzen. Denn es ist ja nichts Geringeres als unser eigenes, ureigenstes Wissen, das da im Gestell hängt. Technik und Wissen, techné und epistemé, gehören zusammen, werden faktisch seit Urzeiten zusammengedacht. Speziell unser neuzeitliches Wissen ist ganz überwiegend technisches Wissen - und demzufolge Wissen im Gestell. Das Gestell ist zum Horizont unseres Wissens geworden.

Wohl die größte Illusion des neuzeitlichen, primär technisch gestimmten Zeitgenossen besteht darin zu glauben, daß er sich mittels Technik frei zu je eigenem Wollen und Planen entfalten könne. Dabei dachten schon die ersten Technikphilosophen im siebzehnten Jahrhundert, Francis Bacon und René Descartes, strikt im Gestell, und sie haben das sogar begrüßt und sich viel darauf eingebildet. Pankraz möchte nur an die "schweren Bleigewichte" erinnern, die Bacon jedem "wahren Wissenschaftler" an die Beine binden wollte, damit er nur in winzig kleinen Schritten voranschreite, ja nicht ins kühne Extemporieren gerate.

Von Bacon und Descartes und Galilei und Kant kommt jenes fatale justitielle Naturveränderungspathos der Moderne: "Der Mensch schreibt der Natur ihre Gesetze vor." Bei Kant gibt es die berühmt-berüchtigte Stelle, wo er postuliert, daß der Mensch über die Natur zu Gericht sitzen müsse wie über einen gestellten Verbrecher. Aber Heidegger hat gezeigt: Nicht die Natur wird gestellt, sondern in erster Linie der Mensch selbst. Indem er die Natur zu stellen glaubt, wird er selber gestellt, d.h. er wird zu einer simplen Funktion des Gestells.

All das, was heute so unübersehbar geworden ist: die berüchtigten Nebenfolgen und Folgekosten, die Verwüstung und Vernormung und Verlangweiligung des Lebens, auch die vielen immer mehr gesteigerten Geschwindigkeiten, die schließlich im Stau enden (und in der Nichteinhaltung von Lieferterminen für oft lebenswichtige Bestellungen) - all das hatte Heidegger in seiner Schrift von 1953 bereits im Visier. Nur hat es damals niemand gemerkt.

Selbst seinen Jüngern, Walter Biemel zum Beispiel, war das Buch "Die Frage nach der Technik" damals, in der Zeit der allgemeinen Technik-Euphorie, sichtbar peinlich, und sie versuchten, es in ihren Heidegger-Interpretationen zu überspielen oder zu verkleinern, zum  Verdruß übrigens des Meisters. Heute läßt sich nichts mehr überspielen oder verkleinern. Alle hängen im Gestell.

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