© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

Rettet die Alleinschuld!
Geschichtsdebatte: Das deutsche Urheberrecht für die Eskalation des Zweiten Weltkriegs ist bedroht
Thorsten Hinz

Das Buch "Kampflatz Deutschland" des polnisch-deutschen Historikers Bogdan Musial schlägt bereits Wellen. Musial bestätigt nach neuen Aktenstudien, was unter ausgeschlafenen Historikern in Deutschland längst Konsens ist: Mit seinem Überfall auf die hochgerüstete Sowjetunion am 22. Juni 1941 ist Hitler einem sowjetischen Angriff auf Deutschland zuvorgekommen. Wenn auch nicht um wenige Tage oder Wochen, wie in manchen Präventivkrieg-Thesen behauptet. Kollegen wie Walter Post, Heinz Magenheimer, Joachim Hoffmann oder Stefan Scheil wird Musial damit freilich nichts Neues sagen. Es gehört nur zu den Verrücktheiten der deutschen Verhältnisse, daß Musial wegen seiner vorsätzlichen Weglassungen, Einschränkungen und Verneigungen vor geschichtspolitischen Geßlerhüten eine vergleichweise größere Wirkung entfaltet.

Das Thema ist so brisant, weil das Bekenntnis zur deutschen Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg - neben der permanenten Vergegenwärtigung des Holocaust - den einzigen Identitätsanker in diesem sonst identitätslosen Land darstellt. Es berührt den geschichts- und staatspolitischen Lebensnerv der Bundesrepublik.

1960 wies Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU) - zugleich Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft - in öffentlicher Rede auf die 54 Sudetendeutschen hin, die am 4. März 1919 gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker für den Anschluß an das Deutsche Reich demonstriert hatten und vom tschechischen Militär niedergemetzelt worden waren. Diese Bluttat, so Seebohm, habe bereits den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert. Darauf reagiert der Staatsrechtler Theodor Eschenburg in der Wochenzeitung Die Zeit: "Bei der Frage nach der Schuld am Zweiten Weltkrieg, die wissenschaftlich sehr schnell und eindeutig beantwortet ist, handelt es sich nicht etwa um eine fachhistorische Angelegenheit. Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld Hitlers ist vielmehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik."

Eschenburg hatte recht und unrecht zugleich. Die deutsche Alleinschuld wurde in der Tat schnell, jedoch nicht wissenschaftlich, sondern juristisch vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal notifiziert. Der Verteidigung wurde regelmäßig das Wort abgeschnitten, sobald sie auf den internationalen Kontext der politischen und militärischen Entscheidungen zu sprechen kommen wollte. Eine Siegerjustiz also, der die meisten deutschen Historiker dennoch lemminghaft folgen. Im übrigen hatte Eschenburg die Sachlage korrekt benannt. Nicht historische Fakten und Zusammenhänge waren maßgeblich, sondern politische Kräfteverhältnisse und Interessen. Seebohms Äußerungen könnten von der sowjetischen Propaganda als "Mittel der weltpolitischen Isolierung Deutschlands" verwendet werden. In der Tat: Der antifaschistische Konsens war blockübergreifend und galt auch für die westliche Führungsmacht!

Roosevelts Botschafter in Moskau, Joseph E. Davies, konstatierte während des Großen Terrors, es gebe keine Interessenkonflikte physischer Natur zwischen den USA und der UdSSR, vielmehr ergänzten sich die natürlichen Hilfsquellen Rußlands und der USA. Die zweite Gemeinsamkeit lag darin, daß beide Staaten die Identität einer konkreten Gruppe unterhalb der Menschheit nicht akzeptierten - was freilich nicht hieß, daß sie deswegen die eigenen machtstaatlichen und imperialen Ambitionen aufgegeben hätten. Hitler-Deutschland bot ihnen die moralische Handhabe, den Kampf um das von Tocqueville vorhergesagte globale Kondominium aufzunehmen. Die Deutschen beugen sich dieser Logik bis heute.

In "Ursprünge und Elemente der totalen Herrschaft" definiert Hannah Arendt ein Handeln als totalitär, das sich über Tatsachen und Identitäten hinwegsetzt und historische Situationen analytisch gleichsam zerhackt, um die brauchbaren Einzelteile nach außerhistorischen, interessendefinierten Gesichtspunkten neu zusammenzusetzen. Dieser Systementwurf (bzw. Ideologie) gibt die Handlungsgrundlage ab für die Politik mit den bekannten Begleiterscheinungen: Widerspruch wird kriminalisiert; Tatsachen, die sich gegen das System sperren, werden unterdrückt, unter Verschluß gehalten. Die Bundesrepublik ist somit ein Beispiel, daß auch demokratische Verfassungsstaaten totalitäre Elemente enthalten können, sofern sie einer echten historischen Identität entbehren.

Ihre Implementierung erfolgte in einem total besiegten Land. Um die Qualität der deutschen Niederlage zu kennzeichnen, benutzte der Historiker Hans-Joachim Arndt die Vokabel "debelliert" - völlig vernichtet. Die Debellation manifestierte sich massenhaft in der Verteilung von Melde- und Fragebögen an die Besiegten. Die Angaben darin waren entscheidend für eine mögliche Eröffnung eines Spruchkammerverfahrens oder eine Einlieferung in ein Internierungslager sowie für Lebensmittelzuteilungen und eventuelle Berufsverbote. Nur wer die richtige Gesinnung bekundete, konnte mit einem gefüllten Brotkorb rechnen.

Die Heuchelei, die der Erlebnisgeneration abgepreßt wurde, tradiert sich bis heute als existentieller Verblendungszusammenhang. Es geht nicht nur um falsches Bewußtsein, sondern um eine substantielle, kollektive Fehlkonditionierung. Weil die offene Rebellion dagegen international unmöglich ist, müßten die deutschen Funktionseliten in Politik, Presse und Wissenschaft schlau wie die Füchse sein und diese Konstellation insgeheim unterlaufen. Doch sie sind dumm wie die Hühner, sie befestigen sie und befinden sich wohl dabei. Auch die Debatten und Kampagnen zum "Patriotismus" bleiben "in der Ideologiekritik der erpressenden und Ohnmacht erzeugenden Bewältigungsindustrie" stecken (G. Maschke) und sind bloß läppisch. Sollte es ausgerechnet einem gebürtigen Polen gelingen, die Verhältnisse aufzumischen, müßten seine eingangs genannten Kollegen das als professionelle Ungerechtigkeit empfinden - aber Charme hätte es!

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