© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

"Rußland hat die Grenze überschritten"
Ukraine: Trotz Ablehnung des Beitrittsantrags auf dem Nato-Gipfel findet das Bündnis immer mehr Anhänger
Lubomir T. Winnik

Am Dienstag voriger Woche hat der russische Außenminister Sergej Lawrow erneut betont, daß sein Land alle Anstrengungen unternehmen werde, um eine Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato zu verhindern. Am Freitag legte dann der russische Generalstabschef nach und drohte, daß sich Moskau im Fall eines Nato-Beitritts gezwungen sehe, zum Schutz der eigenen Sicherheit "militärische und sonstige Maßnahmen" zu ergreifen. Was damit konkret gemeint sei, ließ der Armeegeneral aber offen.

Speziell in Kiew läuteten daraufhin die Alarmglocken. "Rußland hat die Grenze überschritten", erklärte empört der Chef des Militärausschusses des ukrainisches Parlaments, Anatolij Hryzenko. "Es muß auf dem höchsten staatlichen Niveau reagiert werden", so der Ex-Verteidigungsminister. Am Samstag forderte dann das ukrainische Außenministerium Moskau offiziell auf, seine Drohungen wegen des geplanten Nato-Betritts einzustellen. Rußland solle die "Bestimmungen des ukrainisch-russischen Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft strikt einhalten". Denn dieser Vertrag beinhaltete unter anderem die "Nichtanwendung von Gewaltdrohungen und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen". Für den Schutz ihrer Souveränität und Unabhängigkeit werde die Ukraine "alle nur möglichen vom Völkerrecht vorgesehenen Maßnahmen ergreifen".

Ob sich Rußland wirklich damit abfinden muß, daß die Ukraine "bald ein Nato-Mitgliedsland wird" (wie der ukrainische Botschaftsrat in Moskau, Leonid Ossawoljuk, letzte Woche verkündete) - oder zumindest "in der Perspektive", wie Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer prognostizierte -, ist aber fraglich. Denn beim jüngsten Nato-Gipfel in Bukarest ist beschlossen worden, die Einbeziehung der Ukraine und Georgiens in den Membership Action Plan (MAP/der Vorstufe zur Nato-Mitgliedschaft) vorerst bis Dezember zu verschieben - trotz energischen Engagements von US-Präsident George W. Bush. Speziell Deutschland und Frankreich befürchteten, daß dies die Beziehungen zu Rußland irreparabel beschädigen könnte (JF 15/08).

Der in den westlichen Medien verbreitete (und von Moskau geförderte) Eindruck hingegen, daß "die Ukrainer" in Wahrheit immer noch an "Mütterchen Rußland" hängen und sich deshalb weder dem Westen noch der Nato zuwenden wollen, trügt aber. Eine Ursache dafür liegt darin, daß fast alle ausländischen Medienvertreter für die Ukraine nach wie vor in Moskau akkreditiert sind - und damit die Berichterstattung aus Moskauer Sicht beibehalten. Bei den Ausflügen in die Ukraine bedienen sich die Journalisten meist der russischen Sprache und erzwingen damit sogar von ethnischen Ukrainern "russische" Antworten. Am 23. Januar richtete die Ukraine einen "Brief der Drei" an die Nato - unterzeichnet durch Präsident Wiktor Juschtschenko, Premier Julia Tymoschenko und Parlamentschef Arsenij Jazenjuk. Dies war der offizielle MAP-Aufnahmeantrag. Die Reaktion der westlichen Medien blieb äußerst verhalten. Am 30. März brachte der ARD-"Weltspiegel" hingegen Interviews "mit den Ukrainern", welche den Nato-Beitritt ablehnen. Doch keiner sprach ukrainisch. Die gezeigten Sprachrohre auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew donnerten auf russisch, die Plakate trugen russische Schriftzüge oder kommunistische Symbole.

Auch die TV-Anstalt Euronews, die eigenem Bekunden zufolge "aus europäischer Perspektive" sendet, beschäftigte sich vor dem Bukarester Gipfel mit den "ukrainischen" Nato-Gegnern. Doch einmal sprach Euronews mit einem Russen aus der Ukraine, mal mit einem Russen aus Moskau. Dabei gibt es in der Tat zahlreiche ethnische Ukrainer, die einen Nato-Beitritt ablehnen.

Ihre Haltung prägt jedoch eine andere Motivation als die der Russen in der Ukraine, nach deren Verständnis alles Westliche ihrem "Mütterchen Rußland" schadet. Zu Sowjetzeiten wurde die Nato propagandistisch zum Erzfeind der Menschheit hochstilisiert. Ganze Generationen speziell der Ost- und Südukrainer kennen den Nordatlantikpakt nur als "aggressiven, slawenfeindlichen Block". Nach der Unabhängigkeit 1991 hat sich in den Gebieten, aus denen sich die Wählerschaft der russophilen Partei der Regionen rekrutiert, diesbezüglich wenig geändert, da die dortigen Medien fest in der Hand der russischsprachigen Oligarchen geblieben sind.

Unverhohlen setzen sie weiter das Ukrainentum mit "den deutschen Faschisten" gleich, verspotten die ukrainische Sprache oder vergleichen die ukrainischen Staatssymbole mit dem Hakenkreuz. Wer auf der Straße in einer Stadt des Donezbecken (Donbass) ukrainisch spricht, riskiert tätlich angegriffen zu werden. Die liberale Nationalitätenpolitik Kiews wurde rücksichtslos mißbraucht - inzwischen gibt es in der Ukraine mehr russischsprachige Zeitungen und Bücher als zu Sowjetzeiten. Das Fernsehen direkt aus Rußland beherrscht die ukrainische Medienlandschaft. Gleichzeitig wird Moskau nicht müde, gegen die angebliche Unterdrückung der russischen Minderheit in der Ukraine zu trommeln. Die Ausbrüche dieser Haßhysterie gipfeln eindrucksvoll vor den Augen der Welt im Kiewer Parlament, wenn die russischstämmigen Abgeordneten bei Streitfragen den Platz des Parlamentspräsidenten mit geballten Fäusten attackieren. Die ukrainischen Medien sprechen inzwischen offen von der "fünften Kolonne" im Lande.

Doch allmählich scheint sich die Stimmung zu wandeln. Denn dank weltweit steigender Rohstoff-, Stahl- und Agrarpreise geht es der Ukraine (die hier ihre Stärken hat) wirtschaftlich langsam besser. Immer mehr erkennen, daß es ihnen existentiell und freiheitlich markant besser geht als einem Russen, der außerhalb von Moskau, St. Petersburg und der großen Städte sein Dasein fristen muß. Die fortschreitende Stabilisierung des Landes in allen Lebensbereichen wird allmählich sichtbar, diese kommt immer mehr ukrainischen Bürgern zugute. Dies trägt zum erkennbaren Sinneswandel wahrscheinlich mehr bei als die zahlreichen (meist vom Westen finanzierten) Organisationen und Kampagnen, deren Ziel es ist, die Nato zu "entdämonisieren".

Die Umsetzung der staatlichen Nato-Werbekampagnen, etwa Mediendiskussionen am Runden Tisch, Organisation von Jugendkonferenzen, Studenten- und Journalistenaustausch, Nato-Information in den Schulen, Hochschulen, Betrieben, Ämtern und Ministerien, läuft dennoch im ganzen Land weiter auf Hochtouren. "Als ich voriges Jahr eine Hochschule im Donbass besuchte, konnte ich dort ein fantastisch eingerichtetes 'Zimmer der europäischen Integration' besichtigen, das mit Fakten und ohne jeglichen externen Einfluß jedem Besucher behilflich ist, den Sachverhalt zu begreifen, um sich eine eigene Meinung bezüglich Nato und EU bilden zu können", erklärte kürzlich Außenminister Wolodymyr Ohrysko in einem Interview für die Zeitung Ukraina moloda.

Daß solche Initiativen ihre Wirkung nicht verfehlen, bezeugte mit einer Prise Stolz Präsident Juschtschenko höchstpersönlich: "Noch vor zwei Jahren setzten sich nur 17 Prozent der Ukrainer für die Integration in die Nato ein. Nun stieg diese Zahl bis auf 36 Prozent an", erklärte er während seines Polenbesuchs in der Zeitung Polska. "Und paradoxerweise war es nämlich die Partei der Regionen selbst, die vor drei Jahren unsere nationale Strategie bis 2015 ausgearbeitet hatte." Die jetzige Regierungsmannschaft setze sie also nur weiter fort.

Am 4. April wurde in Bukarest ein Memorandum zur Koordinierung der weiteren Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der Nato unterzeichnet. Mit einem Zusatzprotokoll wurde vereinbart, in der Ukraine ein Nato-Informationszentrum zu eröffnen. Ob dies aus den 36 Prozent demnächst 51 Prozent Nato-Anhänger in der Ukraine macht, bleibt abzuwarten. Denn der Präsident hat vorige Woche überraschenderweise die Entsendung von Soldaten in den Irak verkündet. "Eine Friedenstruppe von Militärangehörigen und Mitarbeitern der Streitkräfte der Ukraine - insgesamt 15 Mann" sollen im Interesse "der langfristigen Zusammenarbeit der Ukraine und des Irak" dienen. Dabei zählte zu Juschtschenko Wahlversprechen der Abzug der ukrainischen Truppen aus dem Irak, was 2005 auch geschah.

Internetseite der ukrainischen Regierung zum Nato-Beitritt: www.ukraine-nato.gov.ua.

Foto: Regierungschefin Tymoschenko mit Nato-Generalsekretär Scheffer: Schutz der Souveränität

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