© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

Pankraz,
E. Hanslick und der Tag des Lärms

Aus der "Musica Viva"-Reihe des Bayerischen Rundfunks ist jetzt eine Neukomposition "wegen zu großer Lärmentfaltung" entfernt worden. Genau genommen war sie noch gar nicht drin, wurde erst einstudiert. Nicht das Publikum protestierte, sondern die Musiker, nicht die Konsumenten, sondern die Produzenten. "Das Stück ist vielleicht gar nicht schlecht", sagten sie, "es ist auf jeden Fall interessant. Aber es ist zu laut, viel zu laut, man kann vor lauter Lärm nichts mehr unterscheiden." Der Konzertmanager hatte Verständnis und änderte das Programm.

Vielleicht ist den "Musica Viva"-Besuchern dadurch manches erspart geblieben. Aber daß sie vor lauter Lärm nichts mehr hätten unterscheiden können, glaubt Pankraz nicht. Musikalischer Lärm ist nicht gleich Straßenlärm oder Baustellenlärm oder Kinderlärm, er hat - wie jedes andere musikalische Ereignis auch - seine festgelegte Ordnung, und unser Ohr kann diese Ordnung auch durchaus unterscheiden, wenigstens eine begrenzte Zeit lang, etwa zwanzig Minuten lang. Danach freilich wird Lärm, jeder Lärm, ungesund, schädigt das Gehör, führt zu gefährlichen Streßsituationen.

Nicht jedes laute und lästige Geräusch ist schon Lärm, dem banalen Wortgebrauch zum Trotz. Es gibt hierzulande eine DIN (Deutsche Industrienorm) für "Lärm": Er beginnt normalerweise bei 90 sogenannten Dezibel, kann allerdings bei entsprechendem "Schalldruckpegel", zum Beispiel Dauerhämmern, auch beträchtlich früher seine unheilvolle Wirkung entfalten. Viele subjektive Faktoren sind im Spiel. Manche Leute fallen schon bei 85 Dezibel in Ohnmacht, andere halten selbst bei 200 und mehr die vollen zwanzig Minuten durch.

Immer aber gilt, auch ganz ohne Musik: Lärm ebnet die Fülle der Töne und Klänge keineswegs ein, er ist genauso ton- und klangreich wie gediegenere, erträgliche Geräuschwelten, möglicherweise sogar klangreicher. Pankraz hat sich einmal einer Kernspintomographie im Kopf- und Halsbereich unterzogen, wo also in Kopf und Hals Magnetfelder aufgebaut und wieder abgebaut werden und dabei sämtliche Körper-atome ins Wackeln kommen - nie wieder hat er eine solch ungeheure Fülle verschiedenster, aufs schärfste voneinander abgegrenzter Lärmformen erlebt. Eine Beethoven-Symphonie klingt geradezu eintönig dagegen.

Es schrie und kreischte und donnerte und jaulte, es hämmerte und kratzte, haute auf Pauken und lieferte tollste Trommelwirbel, es schmetterte und quietschte, explodierte und orgelte und sang in allertiefsten bzw. allerhöchsten Tönen, und das mit mindestens 250 Dauer-Dezibel! Pankraz trug dicke Oropaxe, doch es war, als würden ihm hundert zu Tode geängstigte Ochsen und Esel gleichzeitig ins Ohr brüllen. Es war ein größeres Abenteuer als ein Weltraumflug. Doch nach wenigen Minuten war Gott sei Dank alles vorbei.

Mit Sicherheit hat das vom Bayerischen Rundfunk abgesetzte Stück (sein Erfinder heißt übrigens Dror Feiler und lebt in Jerusalem) nicht im entferntesten die Lärmstärke dieser Kernspintomographie erreicht; die beteiligten Musiker wären mit ihren herkömmlichen Instrumenten ja gar nicht in der Lage gewesen, dem Magnetfeldzirkus Paroli zu bieten, selbst wenn sie ihr Dirigent dazu geprügelt hätte.

Trotzdem verdient dieser Anti-Lärm-Protest von München wohl einen Extra-Anstrich im Kalender. Er markiert ein historisches Datum. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte ist eine Komposition in toto und ganz allgemein "wegen zu großer Lärmentfaltung" abgesetzt worden. Bisher gab es immer nur Diskussionen über (angeblich oder wirklich) falsche Geräuschpegel innerhalb eines bestimmten Kunstwerks. Man stritt sich über Piano und Forte an dieser oder jener Stelle, nie und nimmer darüber, daß ein Stück generell zu laut sei.

Der berühmte Wiener Kritiker Eduard Hanslick hat im neunzehnten Jahrhundert über die Opern Richard Wagners einmal verlautbart: "Diese Musik ist mir zu laut!" Aber er meinte es eher als Scherz, und auch alle seine Leser nahmen es als Scherz. Sie wußten zwar (denn es war allgemein bekannt): Hanslick ist für Brahms und gegen Wagner. Aber die genuin musikalische Lärmentfaltung spielte dabei keine Rolle, vielmehr die angeblich aufdringliche Programmatik Wagners, das "Literarische" in seiner Musik, seine Leitmotive, sein Streben nach dem "Gesamtkunstwerk".

Der Künstlerprotest, Musikerprotest gegen Lärmentfaltung ist allerneuesten Datums, und er ist an sich nicht unsympathisch. Die Welt insgesamt ist ja in unangenehmster Weise lärmhaltig geworden, zum Straßenlärm kam der Fluglärm, zum Baulärm der Freizeitlärm, keine einst stille, vornehme Wohngegend mehr, in der nicht, je nach Jahreszeit, ratternde Rasenmäher oder heulende Laubeinsammler ganze Tage lang die Luft zerschneiden.

Und die Musik, zumindest ihre populäre Fraktion, hat sich dem Trend längst angeschlossen. Popkonzerte sind heute reine Lärmorgien. Volkstümliche Festumzüge mit ihrem ewigen Tschingderassabumm verwandeln noch die verschlafensten Dörfer in Lärmhöllen, wo die Kühe vor Schreck die Milchproduktion einstellen und kein Hahn mehr zu krähen wagt. Höchste Zeit also, daß endlich ein innermusikalisches Gegenzeichen gesetzt wurde, daß ernsthafte Musiker zum Maßhalten in Sachen Lärm aufriefen und gleich in der eigenen Zunft ein Exempel statuierten.

Letzten Mittwoch wurde, von der Deutschen Gesellschaft für Akustik ausgerufen, bundesweit zum zweiten Mal der "Tag gegen Lärm" begangen, als Bestandteil des internationalen "Noise Awareness Day", den es seit 2007 gibt. Viel hat man davon nicht gemerkt. Gut, daß es kurz davor wenigstens die Münchner "Musica Viva"-Affäre gab.

"Noise Awareness Day" klingt übrigens viel besser als "Tag gegen Lärm". Die genaue Übersetzung heißt "Tag des Lärmbewußtseins", und genau darum geht es. Man soll nicht einfach gegen Lärm anlärmen, sondern über ihn nachdenken. Nachdenken ist der größte Feind des Lärms.

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