© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

Das Recht der kleinen Völker
Europa der hundert Fahnen: In der verstädterten Welt lebt das Bedürfnis nach Wurzeln fort
Karlheinz Weissmann

Volk" ist, was "folgt". Keine unumstrittene Etymologie, aber plausibel unter der Bedingung, daß die europäischen Völker ihrem Ursprung nach aus Gefolgschaften entstanden, vor denen einer "her zog", der "Herzog". Man könnte den Begriff noch so erweitern, daß Volk jene Gemeinschaft ist, die einem gemeinsamen Nomos folgt, wobei Nomos mehr bedeutet als "Leitkultur" und Sprachkompetenz, eher ein gemeinsames Sittengesetz, das von Menschen gleicher Herkunft anerkannt wird, zusammen mit einer Menge von Bräuchen und Selbstverständlichkeiten aller Art.

Den europäischen Völkern drohen diese Merkmale immer weiter abhanden zu kommen, was zum Teil erklärt, warum der Begriff Volk immer seltener Verwendung findet, entweder ganz politisch - im Sinn von Nation aufgefaßt - oder als "völkisch" unter Verdacht gestellt wird.

Gegen die Realität von Völkern ist damit aber nichts gesagt. Man kann das vor allem an den Gruppenkonflikten erkennen, die keinesfalls sozial umzudeuten sind. Auch wer hilfsweise von ethnischen oder Stammes­auseinandersetzungen spricht, kaschiert nur, daß Ethnien wie Stämme nichts anderes als Völker sind.

Welche Schärfe deren Entgegensetzung annehmen kann, ist auf dem Balkan oder im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion genauso zu beobachten wie in den ehemaligen Kolonialgebieten Afrikas und Asiens. Die zugrunde liegenden Probleme sind oft unlösbar, weil man die Wirklichkeit der Völker ignoriert hat, und sie lassen sich jedenfalls nicht mit den Methoden des nation building aus der Welt schaffen.

Die wurden an europäischen und dem nordamerikanischen Modell entwickelt und setzen die Nation als "Kommunikationsgemeinschaft" (Karl Deutsch) voraus. Daß auch die nicht so ohne Wenn und Aber "konstruierbar" ist, sondern die Widerständigkeit des Geschichtlichen glatten Planungen entgegensteht, kann man an jenen Nationalstaaten des Westens beobachten, die üblicherweise als politische Muster gelten.

Bekannt ist der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen in Belgien, bei dem es um wesentlich mehr geht als um einen Sprachenstreit, weil die Flamen seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen Kampf um ihre Selbstbehauptung als Volk führen. Die Öffentlichkeit beunruhigt dabei besonders die Gefahr des Zerbrechens der staatlichen Einheit, die aber nicht nur in Belgien bedroht ist, sondern auch in Spanien und Großbritannien.

Der Dynamik, die solchen Separationsprozessen eignet, scheint man weder durch Konzilianz (der spanischen Zentrale gegenüber Basken oder Katalanen etwa) noch durch hinhaltenden Widerstand (Londons gegenüber Nordiren und Schotten) wirkungsvoll begegnen zu können. Das Verlangen der spanischen Provinzen, als "Nationen" anerkannt zu werden, zeigt genauso wie das für 2010 vorgesehene Referendum über einen unabhängigen schottischen Staat, daß hier Kräfte in der Tiefe des kollektiven Gemütszustands wirksam sind. Längst vergessen geglaubte Siege und Helden, von kaum jemandem erinnerte Demütigungen in der Vergangenheit erhalten plötzlich eine aktuelle und politische Bedeutung.

Dahinter steht das Volk als geschichtsmächtiger Faktor, das, was Max Hildebert Boehm als "das eigenständige Volk" bezeichnet hat, dessen Eigenständigkeit zuerst in einer gemeinsamen Geschichte und in einer gemeinsamen Mentalität gründet.

Unter dem Eindruck der gescheiterten Neuordnung im mitteleuropäischen Raum und angesichts der falschen Verheißung eines "Selbstbestimmungsrechts" der Völker entwickelte Boehm in der Zwischenkriegszeit den Plan einer Föderation von Völkern, die nicht als territoriale und staatliche, sondern als kulturelle Einheiten aufgefaßt werden sollten. Seine Aufmerksamkeit galt dabei neben den Minderheiten vor allem jenen kleinen Völkern, die es nie zu (dauernder) Staatsbildung gebracht hatten.

Boehm bezeichnete seine eigene Position als "ethnopathetisch", weil sie das Volk als Ganzheit ernst zu nehmen trachtete und sich damit nicht nur gegen jede atomistische Soziallehre, sondern auch gegen den Nationalismus wandte, der letztlich immer "ethnokratisch" ist, das heißt die Unterdrückung des fremden Volkes - innerhalb wie außerhalb der Staatsgrenzen - durch ein Herrenvolk betreibt.

Eine verblüffend ähnliche Konzeption für die Gegenwart entwarf der bretonische Regionalist Yann Fouéré. Er gab seiner Zukunftsvision den Titel "l' Europe des cent drapeaux", "das Europa der hundert Fahnen", und verknüpfte damit die Vorstellung eines Großraums, in dem die Nationalstaaten aufgelöst und die kleinen Völker - zu denen er die Franken, Bayern, Friesen, Sachsen genauso wie die Sarden, Waliser, Rätoromanen oder Kornen rechnete - gleichberechtigt nebeneinanderstehen sollten.

Seine Idee erschien in den Zeiten des Kalten Krieges, als sie entstand, ganz utopisch. Nach dem Ende des sowjetischen "Völkergefängnisses" und angesichts wachsender Bereitschaft auch im Westen, den Zentralismus in Frage zu stellen, konnte man hingegen glauben, daß hier durchaus ein denkbares Ordnungsmodell vorliege.

Allerdings sind die praktischen Probleme, die aus der Verwirklichung erwüchsen, kaum abzuschätzen. Jedenfalls wäre die Zusammenfassung eines so heterogenen Gebildes noch ungleich schwerer zu erreichen als eine Union der Nationalstaaten im üblichen Sinn - verstärkt noch durch die Neigung, auch jene Besonderheiten am Leben zu erhalten, die gar keine mehr sind, sondern nur noch Folklore.

Insofern scheint ein Ansatz realistischer, der die kleinen Völker und die Regionen als Möglichkeit der "Verwurzelung" ansieht - ohne künstliche Wiederbelebung von längst Vergangenem, sondern als Möglichkeit der Beheimatung. Als Alternative zu dem Ansatz Fouérés wäre deshalb jenes Konzept von Volks-Identität zu betrachten, das der unlängst verstorbene Jean Mabire, Veteran der normannischen Autonomiebewegung, folgendermaßen zusammenfaßte: "Das ist das Empfinden einer ganz konkreten Bindung, die alle Menschen einer besonderen Landschaft eint, in dem Bedürfnis nach Verwurzelung, das immer stärker wird in einer auf chaotische und plutokratische Weise industrialisierten und verstädterten Welt."

Foto: Streiter für die schottische Unabhängigkeit in der Tradition von "Braveheart": Kräfte in der Tiefe des kollektiven Gemütszustands

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