© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

Weltrevolution durch Vernichtungskrieg
Bogdan Musial revidiert in "Kampfplatz Deutschland" die Präventivkriegthese - Stalin plante erst für 1942
Herbert Ammon

Der polnisch-deutsche Historiker Bogdan Musial repräsentiert jenen in der deutschen Ge-schichtsschreibung selten gewordenen Typus von Wissenschaftler, in dessen Werk humanistisches Ethos, patriotisches Selbstverständnis und Forscherleidenschaft zusammenfließen. Ihm (und seinem ungarischen Kollegen Krisztian Ungvary) war es in den 1990er Jahren zu verdanken, daß sich die von Koryphäen der westdeutschen Zeitgeschichte wie Manfred Messerschmidt mit wissenschaftlichen Weihen versehene "Wehrmachtausstellung" als propagandistische Mischung von Fiktion und Fakten enthüllte. Daß er sich, ausgewiesen durch eine Promotion über die Judenverfolgung in Polen, mit heiklen Themen befaßt, scheint seiner Biographie als Vorkämpfer der Solidarność (JF 14/08) geradezu angemessen.

Musial betreibt "Revisionismus", das heißt er unterzieht etablierte Thesen der Überprüfung anhand quellengestützter Fakten. Das vorliegende Buch entstand, so der Autor in der Einleitung, aus Widerspruch gegen die von westlichen Autoren, insbesondere von dem bezüglich der Massenverbrechen Stalins illusionslosen Richard Overy, noch vielfach vertretene These von der "defensiven, reaktiven Haltung" Stalins in den 1930er und 1940er Jahren. Die Vorstellung, unter Stalin habe die Sowjetunion der Weltrevolution abgeschworen, wird meist mit der von ihm nach Lenins Tod (1924) gegen Trotzki durchgesetzten Konzeption des "Sozialismus in einem Land" verknüpft.

Gestützt auf eine beeindruckende Fülle von Archivfunden präsentiert Musial die Gegenthese: Von Anbeginn, seit dem als "Oktoberrevolution" in die Weltgeschichte eingegangenen Putsch 1917 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, betrieben die Bolschewiki, beseelt von der Idee der Weltrevolution, die Expansion gen Westen. Gemäß Lenins Diktum "Wer Berlin hat, hat Europa" fungierte für die Kampfgenossen, "die "jetzt durch die Fügung der historischen Geschicke den Vortrupp der Weltrevolution darstellen", so Stalin im April 1923, das ob seines technisch-industriellen Entwicklungsstandes bewunderte Deutschland in einer Doppelrolle: einerseits als Zentrum und Objekt ihres weltrevolutionären Chiliasmus, andererseits dank der Knebelung durch den als Diktatfrieden wahrgenommenen Versailler Vertrag als der "natürliche" Verbündete Sowjetrußlands. Nach dem Scheitern des letzten revolutionären Anlaufs im "deutschen Oktober" 1923 zielten Stalin und seine jeweilige Führungsclique auf den großen Krieg als Strategie der Weltrevolution. Den Weg von Moskau nach Berlin versperrte von 1920 bis 1939 ohnehin das antikommunistische Polen.

Die auf permanente Kriegsvorbereitung ausgerichtete Energie des Sowjetregimes belegt Musial mit breitem Quellenmaterial. Er hatte Zugang zu Partei-, Staats- und Militärarchiven in Moskau und Minsk und durchforstete Geheimprotokolle des Politbüros, Akten der Komintern, Lageberichte der Geheimpolizei GPU, Sitzungsprotokolle des Hauptkriegsrates sowie Dokumente der Führungsfiguren der Bolschewiki (Kaganowitsch, Malenkow, Molotow, Woroschilow etc.). Erwähnt sei das Manuskript der Memoiren des Überlebenskünstlers Anastas Mikojan, der, ab 1926 Volkskommissar für Außen- und Innenhandel, den für den Import von Maschinen und Industrieanlagen unentbehrlichen Export von Rohstoffen und Agrarprodukten dirigierte.

Als die von den Bauern eingetriebenen Naturalsteuern 1927/1928 um 7,8 Millionen Tonnen Getreide unter den Planziffern zurückblieben, sah Mikojan "die Gefahr der Krise für die ge-samte Volkswirtschaft heraufziehen". Er gehörte zu den Wegbereitern der auf Zwangskollektivierung gegründeten, im ersten Fünfjahresplan (1. Oktober 1928) fixierten Industrialisierungskampagne. Kollektivierung ("Entkulakisierung") und die von manchem westlichen Revolutionstouristen bewunderten "Perspektiven der industriellen Entwicklung", so Michail Tuchatschewski in einem Memorandum vom 11. Januar 1930, dienten einem Rüstungsprogramm, "wie dies den Anforderungen des bevorstehenden großen Krieges entspricht".

Kein anderer als der ob seiner militärischen Begabung oft gerühmte Marschall Tuchatschewski trat in dieser Denkschrift als Initiator eines gigantischen Rüstungsprogramms hervor. Ihm schwebte im Rahmen des Fünfjahresplans der Bau von 50.000 Panzern sowie 40.000 Flugzeugen vor. Tuchatschewski propagierte die Strategie des Vernichtungskrieges ("die totale Vernichtung der gegnerischen Armee"), der "unter massivem Einsatz von Chemiewaffen" - er hatte sie bereits im Sommer 1921 gegen aufständische Bauern ("Banditen") im Bezirk Tambov südöstlich von Moskau angewandt - zu führen sei. Stalins Urteil über den "'Plan' des Genossen Tuchski", geboren "aus der modischen Begeisterung für 'linke' Phrasen", fiel zunächst vernichtend aus. Ein Jahr später ernannte er ihn in die zweithöchsten Ränge in der Rüstung und im Volkskommissariat für Kriegswesen und Flotte.

"Woher das Geld nehmen?" fragte Stalin in einem Brief an Molotow (Stalin hänselte den Sproß einer verarmten russischen Adelsfamilie wegen seiner jüdischen Frau als "Molotstein") in bezug auf den Ausbau der Roten Armee. "Wir müssen die falsche Scham abwerfen, direkt und offen eine maximale Erhöhung der Wodkaproduktion anzustreben, um eine wirklich solide Verteidigung unseres Landes gewährleisten zu können." Suff für den Sieg des Sozialismus. In Umfang und Qualität blieben die gewaltigen Rüstungsanstrengungen hinter den Planungszielen zurück. Die 1934 einsetzenden "Säuberungen", so Musial, entsprangen der Jagd nach Sündenböcken, nach "Schädlingen", "Saboteuren" und "Spionen". Ins Visier des NKWD geriet auch Tuchatschewski, "möglicherweise" wegen einer Denkschrift (9. August 1936) über den katastrophalen Zustand der Panzerstreitmacht. (Die vermutlich von RSHA-Chef Heydrich gelegte Verdachtsspur bleibt unerwähnt.) Am 11. Juni 1937 wurde Tuchatschewski zusammen mit sieben anderen hohen Kommandeuren in einem Schauprozeß zum Tode verurteilt und erschossen.

Die "sozialistische Akkumulation" durch Zwangskollektivierung und Zwangseintreibung für Getreideexporte mündete ab 1930 in das Massensterben in den Kornkammern der Ukraine und Südrußlands. Die Opferzahl des Hungertodes ("Holodomor") beziffert Musial auf mindestens zwölf Millionen. Er spricht aus, was viele deutsche Zeithistoriker heute verschämt verschweigen: Viele Bauern sehnten Ende der dreißiger Jahre einen deutschen Angriff förmlich herbei. "Die Zusammenarbeit von Abertausenden von Russen, Ukrainern, Weißrussen, Tataren, Tschetschenen und anderen mit den deutschen Besatzern während der Jahre 1941 bis 1944 ist ohne Kenntnis der hier dargestellten Massenverbrechen nicht zu begreifen. In den westlichen Debatten darüber wird dies aber nur selten berücksichtigt", stellt Musial fest. Auch "die Zahlen der Opfer, die der kommunistische Massenterror in den 1930er Jahren und ab 1939 auch in den besetzten Gebieten forderte, übersteigen die des nationalsozialistischen Terrors in Europa."

Musial widerlegt die "Opfer"-These bezüglich des Sowjetreiches unter Stalin. Nach massiver Umrüstung 1940/41 plante Hitlers Geschäftspartner Stalin seinerseits den Angriff, aber erst "eher auf Frühjahr 1942". Musial weist die von den "Revisionisten" (Hoffmann, Magenheimer, Scheil) im Anschluß an Suworow vorgetragene Präventivkriegthese zurück, die Wehrmacht sei am 22. Juni 1941 der Roten Armee um zwei Wochen zuvorgekommen. "Es besteht kein Zweifel, daß der deutsche Überfall auf die UdSSR ideologisch bedingt war und unabhängig von den sowjetischen Vorbereitungen zum Angriffskrieg erfolgte." Als Beleg dienen die noch unabgeschlossenen Rüstungspläne sowie Stalins Abwertungen der vielfältigen Warnungen als "Desinformation". Leider fehlt im Kontext der Rede Schukows vom 15. Mai 1941 der Bezug auf dessen Plan eines Zangenangriffs nach Westen. Als überzeugendes Argument wirken noch immer die zitierten Tagebucheintragungen Goebbels', so die vom 16. Juni 1941 nach seiner Unterredung mit Hitler: "Durch diese Rechnung wird ihm [Stalin] ein Strich gemacht. (...) Rußland würde uns angreifen, wenn wir schwach werden, und sodann hätten wir den Zweifrontenkrieg, den wir durch diese Präventivaktion verhindern." In Hitlers Kalkül, worin das vom roten Rivalen unterschätzte "Lebensraum"-Konzept wieder zur Geltung kam, war Stalins Angriff auf eine spätere Kriegslage hin terminiert. Ein Fehler ist zu vermerken: Musial datiert den am 10. Mai 1941, im Vorfeld von Hitlers Angriff unternommenen Flug von Rudolf Heß nach Schottland um ein Jahr nach vorn. Ein Kapitel über die geheime Rüstungskooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee von 1922 bis 1934 wäre wünschenswert gewesen.

Musial schreibt in klarer Sprache und prätentionsloser Nüchternheit. Wie Ignoranz und Ideologie in der westlichen Universitätslandschaft voranschreiten, belegt er als unaufgeregter polnischer Patriot am Umgang amerikanischer Historiker mit dem "prewar fascist dictator of Poland", Józef Piłsudski. Aus der Sicht einer anderen US-Geschichtsdidaktikerin "fürchteten" 1936 die "Polen ihren Militärdiktator Piłsudski". Der "gute Marschall" (Goebbels) war aber schon im Mai 1935 gestorben.

Bezüglich des Begriffs "Vernichtungskrieg" betreibt Musial "Revisionismus" im doppelten Sinne. Er hat ein wichtiges, faktengesättigtes Buch geschrieben, das die Zunft, erst recht die besorgte mediale Öffentlichkeit in Deutschland irritieren wird.

Bogdan Musial: Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen. Propyläen Verlag, Berlin 2008, gebunden, 586 Seiten, 29,90 Euro

Foto: "Tapfer kämpfen wir und spießen sie auf", Plakat 1941: Musial widerlegt sowjetische "Opfer"-These

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