© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/08 25. April 2008

Früchte des Zorns
Wer um jeden Preis Konflikt durch Konsens ersetzen will, wird ungeheure Gewalt entfesseln
Alain de Benoist

Alle Autoren, die sich ernsthaft mit der Gewalt auseinandergesetzt haben, betonen ihren ambivalenten Charakter. Max Weber zeigt auf, daß sie keineswegs ein "archaisches" Phänomen, anachronistisches Überbleibsel einer vergangenen barbarischen Ordnung ist. In ihr verschafft sich vielmehr der Antagonismus zwischen Freiheit und Notwendigkeit Ausdruck. Georg Simmel beschreibt sie als Strukturelement der gesellschaftlichen Umstände. Für George Sorel ist sie die Gegenkraft zur herrschenden Ordnung. Julien Freund bezeichnet sie als Ausnahmemittel des Politischen. Gewalt gehört zur Ordnung wie zur Dissidenz, sie überkommt den Menschen in der Hitze des Augenblicks und wird von ihm kaltblütig eingesetzt. Auf der Ebene des Sozialen wirkt sie schöpferisch und zerstörerisch.

Man kann den Begriff der Gewalt so weit fassen, daß darunter selbst die Zwänge fallen, die Gesetze, Institutionen, Gesellschaftsstrukturen ausüben - schließlich ist der Staat aus einem Kräfteverhältnis entstanden. Wenn Gewalt aber überall ist, dann ist sie nirgends. Im strengen Sinn ist die einzige objektiv beschreibbare Gewalt körperlicher Natur, das Ergebnis einer unerlaubten Anwendung physischer Kraft. Viele Gewalttheorien bezeichnen indes nur ungerechtfertigte Kraft als Gewalt. Unter dem Deckmantel formaler Neutralität hat der Staat selbst sich das Monopol der legitimen Gewaltanwendung anzumaßen versucht - was ihm jedoch nie gelungen ist, denn die in ihm verkörperte Legalität ist ihrerseits nicht immer legitim. Wo beginnt also die Legitimität der Kraftanwendung, wenn sich Legitimität nicht in jedem Fall mit Legalität deckt? Als Organisationsprinzip der Gesellschaft kann Gewalt auch ein Weg zum Wiederaufbau des Gemeinwesens sein.

Die zunehmende Einordnung von Gewalt in verschiedene Kategorien ("soziale Gewalt", "Gewalt an Schulen", "Gewalt gegen Frauen" etc.) führt im Gespann mit dem Kult des Kindes (bezeichnenderweise hat in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Kindsmord den Vatermord an der Spitze der abscheulichsten Verbrechen abgelöst) und des Opfers (anstatt der Helden haben heute die Opfer Vorbildfunktion - man muß sich also erst bemitleiden lassen, um bewundert zu werden) dazu, daß der Eindruck entsteht, Gewalt sei überall. Die im eigentlichen Sinne verbrecherische Gewalt hat selbst in den Städten im Vergleich zu früher abgenommen, unbestreitbar ist jedoch eine Zunahme der Jugendgewalt. Sie geht einher mit einer immer mächtigeren Verbildlichung, einer allgegenwärtigen Darstellung von Gewalt als Spektakel.

Das Paradox liegt darin, daß diese Allgegenwärtigkeit der Gewaltbilder mit einem ebenfalls unübersehbaren Verlust an Empfindlichkeit einhergeht: In der gesamten Bevölkerung senkt sich die Hemmschwelle für echte Gewalt unaufhörlich. Das wahre Gewaltproblem beginnt dann, wenn sie ihren Status als Ultima ratio, als allerletztes Mittel verliert, um sich viral auszubreiten und alltäglich zu werden. An diesem Punkt sind wir gerade angekommen.

Gewalt ist die Ausnahme des Politischen, aber die politische Organisation einer Gesellschaft erfordert die Reglementierung von Gewalt. Doch auch hier macht sich wieder Ambivalenz bemerkbar. Die Gewalt muß eingedämmt werden, weil sie die Strukturen des gesellschaftlichen Lebens angreift. Denen aber, die sich ihre Bekämpfung auf die Fahnen schreiben, bietet sie eine Rechtfertigung für die Unterdrückung anderer Meinungen und die Abriegelung des öffentlichen Raums. Derzeit erleben wir fast täglich, wie die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit beschworen wird, um ihnen Freiheiten zu nehmen. Gewalt verursacht Angst, die durchaus begründet ist, aber wiederum instrumentalisiert werden kann. Der Obrigkeit verschafft sie eine neue Legitimationsgrundlage als "Schutzinstanz" und erleichtert zugleich die gesellschaftliche Kontrolle und Überwachung.

Die Stadt als Sinnbild der gesellschaftlichen Spannungen steht im Brennpunkt der zeitgenössischen Ängste. Im Bestreben, aus diesen Ängsten politisches Kapital zu schlagen, schürt die Staatsmacht absichtlich Beunruhigung, anstatt gesellschaftliche Solidaritäten zu stärken, schert Andersdenkende und angeblich "gefährliche" Individuen mit den Schuldigen über einen Kamm. Die Sakralisierung des Gesetzes dient nur mehr dem Zweck, sich vor einer gewaltsamen Anfechtung der von Staats wegen verfügten Un-Ordnung zu schützen.

Die anarchisch um sich greifende Gewalt aller Art läßt überdies aus dem Blickfeld geraten, daß auf allen anderen Ebenen keine Konflikte mehr ausgetragen werden. Die großen sozialen Konflikte des vergangenen Jahrhunderts sind zum größten Teil befriedet - angefangen beim Klassenkampf, den die Geschichte zugunsten der Wahnvorstellung vom "clash of civilizations" einmottete. Seit dem fordistischen Kompromiß zwischen Lohnarbeit und Kapital haben sich die Gewerkschaften genauso mit der Vorstellung einer Gesellschaft ohne größere Antagonismen angefreundet wie die Parteien der Linken mit der konsensuellen Logik des Marktes. Der Staat seinerseits betreibt ein systematisches Bemühen um die "Aushandlung von Kompromissen". Aufweichung des kritischen Denkens, statt dessen "gesellschaftlicher Dialog" und Verhandlung von Interessen: In vielen Bereichen ist der Konsens an die Stelle des Konflikts getreten.

Weltpolitisch herrscht der Gedanke vor, man könne den Krieg abschaffen und den Konflikt beseitigen. Doch der Krieg zur Beendigung des Kriegs übertrifft alle anderen immer an Gewaltsamkeit, und die Kultur der Leugnung des Feindes schützt nicht davor, daß sich Feinde zeigen. Der Pazifismus, der etwas ganz anderes ist als die Sehnsucht nach Frieden (das natürliche Ziel des Friedens ist der Krieg), erzeugt selber Kampf und Konflikt. Das Wesen des Kriegs hat sich nicht grundlegend verändert, aber die Mittel, auf die die kriegführenden Parteien zurückgreifen können, haben um ein Vielfaches an Zerstörungspotential zugenommen. Niemand versteht die Gewalt so zu rechtfertigen und zu entfesseln wie diejenigen, die behaupten, uns für immer von ihr befreien zu wollen!

Die Gewalt ist oft in den Dienst der Utopie gespannt worden, aber die Absicht, Gewalt ein für allemal aus der Welt zu schaffen, zeugt ebenfalls von utopischem Denken. Nicht indem sie den "universalen Frieden" herstellen will und die Konfliktfaktoren beseitigt, kann es der Gesellschaft gelingen, die Gewalt einzudämmen oder umzulenken.

Konflikt entsteht aus natürlicher Angriffsbereitschaft, aus der menschlichen Vielfalt und der Unmöglichkeit, Ansinnen, die ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen entspringen, miteinander zu versöhnen. Konflikt verursacht keine Gewalt, sondern verringert die Wahrscheinlichkeit, daß es soweit kommt. Ihn nicht zu dulden, zeugt weniger von einem Wohlgefallen an zivilisierten zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern offenbart die Angst vor dem Risiko, Resignation und Lähmung.

Es ist keineswegs sicher, daß die Verdrängung des Konflikts und die Leugnung des bloßen Gedankens an den Kampf nicht dazu führen, daß die Gewalt zum Regelfall wird: Wer um jeden Preis Konflikt durch Konsens ersetzen will, wird ungeheure Gewalt entfesseln. Wenn es heute zuviel Gewalt gibt, liegt dies womöglich zuvorderst daran, daß es nicht mehr genug konstruktiven Konflikt gibt.

Foto: Bewaffnet: Die Allgegenwärtigkeit von Gewaltbildern geht mit einem Verlust an Empfindlichkeit einher; die Hemmschwelle für echte Gewalt sinkt

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