© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/08 02. Mai 2008

"Das wird ein neues Versailles für Deutschland"
Dokumentation: Rede des parteilosen Abgeordneten Henry Nitzsche während der Debatte im Bundestag über den EU-Reformvertrag am 24. April 2008

Die hier dokumentierte Rede entspricht der Fassung des Stenographischen Berichtes der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. April 2008 (JF)

Henry Nitzsche (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir in Deutschland unserem eigenen Volk nicht mehr trauen, sitzen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages heute hier, um über seine Zukunft zu entscheiden. Es ist aber nicht nur so, daß wir unserem Volk nicht mehr zutrauen, selbst über seine Zukunft zu entscheiden, wir halten es anscheinend auch für dämlich und vergeßlich. Das scheint mittlerweile Konsens in Europa zu sein.

Da das Volk in Frankreich und in den Niederlanden die geplante EU-Verfassung abgelehnt hat, fragt man es im zweiten Durchgang einfach nicht mehr und winkt das Kind unter einem anderen Namen durch: Reformvertrag. So eine Verhöhnung des Volkswillens brauchen wir uns zum Glück nicht vorwerfen zu lassen. Bei uns in Deutschland werden die Bürger prinzipiell nicht gefragt, schon gar nicht in Europaangelegenheiten - siehe Einführung des Euro oder Erweiterung des Schengen-Raums im vergangenen Dezember. Für beide Entscheidungen hätte es im Volk nie eine Mehrheit gegeben, und das wissen Sie alle.

Dieser Vertrag von Lissabon, der in beschönigender Weise Reformvertrag genannt wird, unterscheidet sich im wesentlichen nicht vom gescheiterten Verfassungsvertrag, von jenem Vertrag, der dank des aufrechten Politikers Peter Gauweiler und seines Anwalts Professor Schachtschneider (Zurufe von der SPD: Oh!) auch von Deutschland nicht ratifiziert wurde. Das Bundesverfassungsgericht untersagte es dem Bundespräsidenten nicht ohne Grund, diesen Vertrag zu unterschreiben. Daher wird nun peinlichst genau das Wort Verfassung gemieden.

Mit diesem Reformvertrag wird eine verbindliche Verfassung für über 500 Millionen Menschen geschaffen. Allerdings ist das eine Verfassung, die nicht demokratisch legitimiert ist, die von einem europäischen Volk ausgeht, das es gar nicht gibt, und deren Inhalte zutiefst demokratiefeindlich sind.

Der Europäische Rat wird durch das vereinfachte Änderungsverfahren ermächtigt - ermächtigt! -, fast das gesamte bestehende Unionsrecht zu ändern. Davon betroffen sind Wirtschafts-, Währungs-, Sozial-, Landwirtschafts-, Umwelt-, Arbeits-, Steuer-, Justiz-, Verkehrs- und Kulturpolitik. Eine Zustimmung des Europäischen Parlaments ist nicht mehr notwendig.

Wo bleibt die Mitsprache der nationalen Parlamente? Wo bleibt die Volkssouveränität? Ein angehängtes Protokoll gibt es bloß über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Danach können der Bundestag usw. die Flut von Entwürfen von Europavorschriften dahingehend prüfen, ob diese Grundsätze verletzt wurden. Wenn ja, können sie innerhalb von acht Wochen, aber nicht später, eine Stellungnahme abgeben. Daß in dieser Zeit auch die Landtage die Vorlagen geprüft haben und der Bundesrat darüber beschlossen hat, ist wohl eher illusorisch.

Wo wir das Europäische Parlament ansprechen: Deutschland hat derzeit ein Sitzkontingent von 99. Das wird reduziert auf 96. Angesichts der Tatsache, daß Deutschland 20 Prozent der Bevölkerung Europas stellt, stünden Deutschland mindestens 150 Abgeordnete zu. Dieses Parlament wird aber nicht durch das Prinzip gewählt, das Bismarck 1871 in Deutschland eingeführt hat: das gleiche Wahlrecht.

Künftig wird die für Deutschland entscheidende Politik von 27 Staats- und Regierungschefs bestimmt, von denen mindestens 26 nicht deutsch sind. Wie sich das mit dem Leitsatz aus Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes - "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" - verträgt, ist mir schleierhaft.

Was wird noch verschwiegen? Zum Beispiel, daß der Reformvertrag ermöglicht, europäische Steuern zu schaffen. Wenn ein Staat die Möglichkeit hat, Steuern zu erheben, dann tut er dies auch. Das Milliardengrab EU und die finanzielle Belastung für uns Deutsche werden damit eine noch gewaltigere Dimension annehmen. Das wird ein neues Versailles für Deutschland. (Widerspruch bei der SPD) Genau diese Tatsache verschweigen Sie dem deutschen Volk. Durch diesen EU-Reformvertrag legitimieren Sie Brüssel, allmächtig und ungehindert über deutsche Interessen zu entscheiden. Dieser Vertrag ist ein neuerliches Ermächtigungsgesetz. (Widerspruch bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade wir in Deutschland sollten hier ganz vorsichtig sein. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Raus hier! -Mechthild Rawert [SPD]: Das ist unverschämt!) Ich würde Ihnen empfehlen, einmal durch das Portal dieses Gebäudes zu gehen. Dort steht in Stein gemeißelt "DEM DEUTSCHEN VOLKE". Hören Sie auf diese Inschrift! (Zuruf von der SPD: Unerträglich! - Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Entscheiden Sie sich für Deutschland! Sichern wir die Zukunft und die Souveränität Deutschlands! Nicht weniger erwarten die Bürger heute von uns.

Deutsche, Christen und Demokraten können diesem Vertrag nicht zustimmen. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Gerade Sie müssen von Christen sprechen! Daß ich nicht lache! - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ach du Gütiger! Was sind denn deutsche Christen?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Michael Stübgen (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nur ganz kurz auf meinen Vorredner, Herrn Kollegen Nitzsche, eingehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das darf man nicht machen!) Doch. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein! Das darf man nicht! Jede Antwort auf seinen Vortrag würde ihn nur adeln!) Auffällig ist für mich folgendes: Sie bezeichnen sich als rechtskonservativ oder was auch immer. Ihre Argumente gegen den Reformvertrag sind allerdings in den meisten Punkten nahezu identisch mit den Argumenten der Linken. Darüber sollten Sie und die Linken einmal nachdenken. (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Eine unheilige Allianz!) Für Deutschland und für Europa ist heute ein besonderer Tag. (Unruhe)

(Anmerkung JF: Hier folgt die Rede des Abgeordneten Stübgen)

Vizepräsidentin Kastner: Herr Kollege Stübgen, die Kollegin Hendricks würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Stübgen (CDU/CSU): Ja.

Vizepräsidentin Kastner: Bitte.

Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Kollege Stübgen, ich bin ganz sicher, daß Sie mit mir einer Meinung sind, daß die Rede des Herrn Nitzsche eine ahistorische Beleidigung dieses demokratischen Parlaments war. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Auch das noch! Jetzt kriegt er nur die Aufmerksamkeit, die er haben wollte! So ein Blödsinn! Genau das wollte er doch erreichen!)

Stübgen (CDU/CSU): Frau Kollegin, da sind wir völlig einer Meinung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Jetzt ist es aber gut! Ignoriert ihn doch einfach! Meine Güte!)

Ich will allerdings wiederholen, was ich zu Beginn gesagt habe: In den meisten inhaltlichen Punkten sind die Argumente nahezu identisch. Ich habe die Äußerungen der Linken aber nicht mit denen des Herrn Kollegen Nitzsche gleichgesetzt. (Anmerkung JF: Nach der Rede Stübgens)

Vizepräsidentin Kastner: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Nitzsche hat in seiner Rede einen Vergleich gezogen zwischen dem Vertrag von Lissabon und dem Ermächtigungsgesetz aus der NS-Zeit. Ich halte das für undemokratisch, für falsch und bitte Sie, Herr Kollege Nitzsche, dies zu überdenken. (Beifall im ganzen Hause) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Diether Dehm.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Herr Nitzsche darf den Vertrag von Lissabon durchaus mit dem Ermächtigungsgesetz vergleichen; aber er darf den Vertrag von Lissabon mit dem Ermächtigungsgesetz nicht gleichsetzen. Denn wenn man den Vertrag von Lissabon mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazizeit vergleicht, stellt man fest, daß Welten dazwischen liegen. Wir kritisieren den Lissabon-Vertrag, würden ihn aber niemals in die Nähe von Nazigesetzgebung rücken. Vergleichen und Gleichsetzen sind grundverschiedene Dinge. Er hat Lissabon-Vertrag und Ermächtigungsgesetz gleichgesetzt. Das ist das, wovon wir uns distanzieren. Er hat die Rechte und die Linke gleichgesetzt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Kollegen Stübgen - wir kennen uns aus dem Ausschuß und wissen voneinander eigentlich etwas mehr - ganz herzlich bitten, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir den Lissabon-Vertrag ablehnen, dann deshalb, weil wir mehr Grundgesetz, mehr Sozialstaatlichkeit, mehr Verbot eines Angriffskrieges und mehr demokratischen Rechtsstaat wollen. Dies, Kollege Stübgen, hat nichts, aber auch gar nichts mit dem wirrköpfigen Chauvinismus des Kollegen Nitzsche zu tun, mit dem Sie uns bitte nicht gleichsetzen! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vergleichen können Sie uns; aber dann werden Sie feststellen, daß es zwischen uns und Herrn Nitzsche, der aus Ihrer Fraktion ausgesondert worden ist, keinerlei Nähe gibt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und verschonen Sie uns bitte mit diesem "Rot gleich Braun" und "Links gleich Rechts"! Solche Gleichsetzungen haben keinen Bestand. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein erfreulicher Tag für Europa. Das zeigt sich an dem europäischen Geist, in dem die Debatte über die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon geführt wird. Es ist allerdings eine beschämende Stunde, wenn durch die Rede von Herrn Nitzsche in diesem Haus der Geist von NPD-Gedankengut Einzug gehalten hat; das müssen wir gemeinsam feststellen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Wer den Begriff "deutsche Christen" verwendet und nicht weiß, daß die Deutschen Christen der Teil der evangelischen Kirche waren, der sich bei den Nazis angebiedert, sich ihnen unterworfen hat - im Gegensatz zur Bekennenden Kirche, die Widerstand leistete -, der zeigt nicht nur Geschichtslosigkeit, sondern ein gnadenloses Maß an Dummheit. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen