© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/08 02. Mai 2008

Des einen Freud, des anderen Leid
Naturschutz: Rehwild für die zunehmende Verbißbelastung junger Bäume verantwortlich / Mehr Jagd gefordert
Harald Ströhlein

Ob im Sprung vor uns Zweibeinern das Weite suchend oder friedlich äsend unweit der Autobahn: Wer die kleinen Hirsche mit dem "Bambi"-Image nicht schon mit eigenen Augen gesehen hat, ist selber schuld. Denn unbestritten ist in unseren Breitengraden das europäische Reh (Capreolus capreolus) der häufigste Vertreter aus der Familie der Hirsche (Cerviden). Seine vier Unterarten sind in ganz Westeuropa verbreitet.

In seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung hat sich diese Wildart zu einem Anpassungsstrategen erster Güte entwickelt. Mittlerweile erstreckt sich der Lebensraum von strauchlosen Landschaften auf Meeresspiegelhöhe bis zur alpinen Baumgrenze, so daß die Titulierung "Kulturfolger" durchaus berechtigt ist. Auch in Deutschland gibt es trotz Zersiedelung eine beachtliche Rehwilddichte. Da die Population direkt nicht zu ermitteln ist, dienen die durch Jägerhand erlegten Tiere als Indiz. Schon seit bald zehn Jahren weist die jährliche Jagdstrecke Zahlen jenseits der Millionengrenze aus - noch vor wenigen Jahrzehnten war es fast die Hälfte weniger. Und anläßlich der im Mai beginnenden Jagdsaison wird für dieses Jahr mit ähnlichen Zahlen gerechnet.

Die Tiere wirken mit einer Schulterhöhe von höchstens einem Meter und einem Gewicht von 30 oder 40 Pfund nicht besonders mächtig. Ein weibliches Stück, auch Ricke oder Geiß genannt, gebärt einmal im Jahr in der Regel zwei Kitze, also Junge, wodurch der Arterhalt mehr als gesichert ist. Natürliche Feinde - von verirrten Wölfen oder ausgesetzten Luchsen abgesehen - gibt es nicht mehr. Und sofern es nicht die Laufbahn einer Kugel kreuzt, kann ein Reh über zehn Jahre alt werden.

Rehe sind Pflanzenfresser, sie ernähren sich vorwiegend von strauch-, kraut- und grasartiger Vegetation: Blättern und Blüten, Knospen und Kräutern. Sie sind Wiederkäuer mit vier relativ kleinen Mägen. Deshalb sind sie auf eine leicht verdauliche und noch dazu energiereiche Nahrung angewiesen, die den Verdauungstrakt recht zügig passiert. Ein ausgeprägter Geschmackssinn hilft den Tieren, adäquates Futter zu auszuwählen, weshalb Rehe auch als Konzentratselektierer bezeichnet werden. Eine besondere Strategie ermöglicht es dem Rehwild, die Winterzeit zu überstehen. Der Stoffwechsel kocht auf Sparflamme: Die Bewegungen werden langsamer, die Wege kürzer, und die Nahrungsaufnahme nimmt ab. Im Spätwinter zehren die Tiere dann von ihren in Form von Fett eingelagerten Energiedepots, auch Feist genannt, die sie sich im vorigen Herbst zusätzlich zu ihrer Erhaltung mühsam erfressen mußten, was aber der Mensch nicht immer zu gewähren in der Lage ist.

Das gilt in jenen Kulturlandschaften und Wald-"Kulturen", die mit Natur nur noch wenig gemein haben. Beispielsweise ist das in jenen Ackerbauregionen der Fall, wo für das Rehwild attraktive Winterzwischenfrüchte wie Raps oder Rüben dem geschmähten Senf weichen müssen, der seine Qualitäten eher als Erosionsschutzpflanze unter Beweis stellt. Das trifft aber auch auf jenes intensiv genutzte Grünland zu, wo von einer botanischen Artenvielfalt keine Rede mehr sein kann, und bei Wiesen, die im Spätherbst noch geschnitten und durch eine anschließende Gülledüngung mehr als konserviert werden. Ebenso gilt es für jene Fichtenplantagen, in denen sich "frei" lebende Tiere nur noch zwischen mit schwerem Maschendrahtzaun geschützten Jungwuchsflächen bewegen dürfen.

Angesichts solch desolater Nahrungsgrundlage ist es nachvollziehbar, daß das Rehwild nicht in der Lage ist, notwendige Körperfettreserven für eventuell lange Hungerzeiten aufzubauen. Von der Jägerschaft angelegte Äsungsflächen mit Futterpflanzen und die Fütterung in harten Wintern verhindern nur noch Schlimmeres. Und so ist es bloß eine Folge, daß sich Rehe in Waldregionen zurückziehen und neben karger Strauchkost auch verlockende Triebe von noch jungen Bäumen anknabbern. Im schlimmsten Fall sind das Leittriebe, die im Normalfall ein gerades Wachstum des Stammes ermöglichen, deren Verbiß aber die kommerzielle Zukunft des Baumes - zum Ärger des Waldbesitzers - vereitelt.

Dies ist die Ursache für eine nicht erst seit gestern bestehende Kluft zwischen Grundeigentümern und Jagdpächtern, deren jeweilige Interessenlage selbst in der Jurisdiktion verwurzelt ist. Während die einen auf die Strategie "Wald vor Wild" pochen, haben die anderen seit jeher einen artenreichen und gesunden Wildbestand als Ideal vor Augen.

Dies nahm der Staat als der größte Waldgrundbesitzer in unserem Land schon seit geraumer Zeit zum Anlaß, den jährlichen Abschuß von Rehwild anhand des sogenannten Verbißgutachtens festzulegen. Demnach werden in der Regel alle drei Jahre nach einem definierten Modus an ausgewiesenen Kontrollstellen die Verbißschäden an Jungpflanzen erhoben, wonach der großflächige Rehwildabschuß für die kommende dreijährige Periode zu erfolgen hat.

Jäger und Biologen strafen jedoch dieses Verfahren als zu phlegmatisch und pauschal ab. Ihrer Meinung nach sollten vielmehr die einzelnen Lebensräume von den privaten wie staatlichen Grundbesitzern, Jagdgenossen und Jägern beispielsweise anhand des Waldflächenanteils, der landwirtschaftlichen Nutzung und des Freizeitdruckes bewertet werden. Denn die Verbißsituation, so deren Meinung, ist nicht nur eine Folge zu hoher Rehwildbestände, sondern ein multifaktorielles Problem.

Eine einvernehmliche Lösung ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Mehr denn je beharren die deutschen Waldbesitzer darauf, die Abschußplanung an ihrem Ziel auszurichten und weiter zu erhöhen. Doch das Rehwild wird dadurch kein Fall für die "Rote Liste" werden, denn der Überlebenskünstler par excellence wird wohl auch für diesen Umstand eine passende Strategie finden.

Foto: Reh vor Jäger-Hochstand: Wegen der zunehmenden Verbißbelastung junger Bäume fordern die deutschen Waldbesitzer eindringlich, die Jagd auf Rotwild noch weiter zu forcieren

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