© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/08 02. Mai 2008

Hungertod auf Europas fruchtbarster Erde
Streit um das Gedenken an den "Holodomor", den Genozid mit mehreren Millionen ukrainischen Opfern im Sowjetreich 1932/33
Martin Schmidt

Die russische Staatsduma verabschiedete vor genau einem Monat am 2. April eine Resolution, in der sie bekräftigt, daß die große Hungersnot von 1932/33 kein ethnisch motivierter Genozid am ukrainischen Volk gewesen sei. Gerade rechtzeitig vor dem Nato-Gipfel in Bukarest, bei dem nicht zuletzt die Mitgliedschaft der Ukraine zur Diskussion stand, sendete Moskau damit ein wichtiges geschichtspolitisches Signal gen Westen.

Die seit November 2007 in Kiew wieder regierenden "orangenen", also pro-westlichen und eher rußlandkritischen Kräfte sehen das ganz anders. Vor allem in der nationalukrainisch gesinnten Westukraine und zunehmend auch in der Mitte des Landes hat ihre Meinungsführerschaft dazu geführt, daß die Debatte um den sogenannten "Holodomor" die öffentliche Meinung nachhaltig prägt. Der Begriff leitet sich von holod (Hunger) und mor (Seuche) ab und bezeichnet den millionenfachen Hungertod, der dem Höhepunkt der stalinistischen Zwangskollektivierungen in den Jahren 1932 bis 1933 folgte und in der Ukraine einen genozidartigen Charakter hatte.

Die Gesamtzahl der Holodomor-Opfer für die Sowjetunion wird mit bis zu sechs Millionen, manchmal aber auch mit zehn Millionen (etwa seitens des ukrainischen Zweiges der Organisation "Memorial") angegeben. Mindestens ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung kam durch die von den Moskauer Bolschewiki möglicherweise bewußt hervorgerufene oder zumindest gesteuerte Hungersnot ums Leben, um den stetig wachsenden Widerstand der dortigen Bauern gegen die totale Abschaffung bäuerlichen Privateigentums zu brechen.

Das ukrainische Parlament hatte am 28. November 2006 den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk eingestuft, und der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko erklärte 2008 zum Gedenkjahr für die Opfer. Russische Historiker betonen demgegenüber die vorangegangenen schlechten Ernten als wichtigste Ursache. So betonte Arsenij Roginskij, zugleich Vorsitzender der russischen Memorial-Sektion, es habe sich um eine "soziale Katastrophe" gehandelt, ein durch die Kollektivierung sowie eine "völlig falsche Außenwirtschaftspolitik" verursachtes "Verbrechen der stalinistischen Führung". Die UdSSR führte in jenen Jahren Getreidemengen aus, die um ein Mehrfaches höher gewesen seien als jene, die im Lande selbst für Brot übrigblieben. "Der Hunger forderte Millionen Menschenleben in der Ukraine, in Kasachstan, im Nordkaukasus und an der Wolga", war also nicht ausschließlich gegen das ukrainische Volk gerichtet, so Roginskij. Auch der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn verurteilt die offizielle Position Kiews zum Holodomor und meint, daß die beiden "Brudervölker" mit diesen international verstärkten Spekulationen entzweit werden sollen.

Fest steht, daß Stalin seit Einführung des ersten sowjetischen Fünfjahresplanes im Oktober 1928 und der anschließenden Einleitung rücksichtsloser Kollektivierungsmaßnahmen die Vernichtung der großbäuerlichen Schicht, der sogenannten "Kulaken", anstrebte. Diese gab es in der fruchtbaren Ukraine mit ihren Schwarzerdeböden in besonders hoher Zahl. Sie mußten überhöhte Steuern zahlen sowie "freiwillige" Selbstverpflichtungen zur Ablieferung größerer Getreidemengen leisten und erlitten bei Nichterfüllung brutale Strafen einschließlich der Beschlagnahmung von Haus und Hof, Verbannung oder mehrjährigen Gefängnisaufenthalten. Da nie ganz klar war, wer zur sozialen Schicht der Kulaken zu zählen war und wer nicht, führten all diese Maßnahmen zu einer allgemeinen Verunsicherung auch unter den Mittel- und Kleinbauern.

Als die Notlage 1932/33 ihren katastrophalen Höhepunkt erreichte, exportierte die UdSSR dennoch größere Mengen Getreide zwecks Devisenbeschaffung ins Ausland; in den Getreidespeichern des Landes stapelte sich das Korn. Strenge Kontrollen unterbanden die Versorgung ukrainischer Hungernder oder deren vorübergehende Umsiedlung in die besser versorgten Städte bzw. weniger betroffene Landesteile. Ein von Stalin eingeführtes System von Passierscheinen sorgte dafür, daß die ukrainischen Bauern ihre Heimatdörfer nicht verlassen konnten, um anderswo Lebensmittel aufzutreiben und so dem Hungertod zu entkommen. Es gab nicht wenige Fälle von Kannibalismus, und schätzungsweise 11.000 ukrainische Dörfer mitsamt ihren Bewohnern gingen zugrunde. Unter den Hungertoten befanden sich aber beispielsweise auch viele schwarzmeerdeutsche Kolonisten sowie einige zehntausend deutsche Bauern aus dem Wolgagebiet, wo die Zustände ähnlich katastrophal waren wie in der Ukraine. In der Fachliteratur ist von 350.000 rußlanddeutschen Opfern die Rede.

Die deutsche Historikerin Barbara Falk hebt in ihrer 2005 erschienenen Doktorarbeit "Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33" hervor, daß die sowjetische Ernährungspolitik zwischen 1927 und 1931 in der Theorie eine zentral gesteuerte Verteilung der Lebensmittel angestrebt habe, um die Versorgungsfrage zu einer reinen Staatsangelegenheit werden zu lassen und den freien Markt auszuschalten. In der Praxis zeigte sich dann jedoch, daß man diesem Anspruch nur ansatzweise gerecht werden konnte, und es entstand ein Listen- und Prioritätensystem mit "zweitrangigen" Städten, Bevölkerungsgruppen und industriellen Sektoren. Indizien für eine gesteuerte Aushungerung mißliebiger Nationalitäten seien nach Ansicht Falks aus den erhaltenen Archiv­materialien allerdings nicht ablesbar.

James Mace, der eine in den achtziger Jahren im Auftrag der US-Regierung mit dem Thema beschäftigte Forschungsgruppe leitete, fällte ein anderes Urteil: "Ich bin überzeugt davon, daß, um die Macht in Stalins Händen zu zentralisieren, sowohl die ukrainische Bauernschaft als auch die ukrainische Intelligenzija, die ukrainische Sprache und Geschichte - also praktisch die Ukraine selbst - vernichtet werden sollte." Vassilij Marotschko, Historiker am Zentrum zur Erforschung des Genozids bei der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew, betonte: "Ob es nun ein Sozio- oder ein Genozid war, das ist für mich ein Spiel mit der Terminologie, an dem sich einige ukrainische und westeuropäische Historiker gerne beteiligen! - Aber wenn ich diese verehrten Kollegen frage: 'Welche Nationalität hatten denn die Bauern in der Ukraine?', bleiben sie stumm. (...) Der Anteil der ethnischen Ukrainer unter den Bauern betrug knapp 87 Prozent! - Gegen wen also (...) hat man den Hunger eingesetzt?! - Dann: Die Korrespondenz zwischen Kaganowitsch und Stalin: Da fällt andauernd das Wort 'Ukraine', 'ukrainisch'. Die ethnische Komponente wird dort stets betont. An keiner Stelle heißt es: 'die sozialistische Ukraine' oder die 'sowjetische Ukraine'. Vielmehr liest man: 'Die ukrainische Frage muß gelöst werden.' - Der Hunger, das steht für mich fest, hatte einen anti-ukrainischen Beweggrund!"

Seitdem Präsident Juscht­schenko kurz nach seinem Amtsantritt den 25. November als nationalen Gedenktag einführte, fordern immer mehr Ukrainer eine internationale Anerkennung des "Holodomor" als Völkermord. Sie wollen endlich eine historische Klärung des traumatischen Geschehens und eine angemessene Würdigung der Opfer. Außenminister Boris Tarasjuk rief am 25. September 2007 die Uno-Generalversammlung auf, die große Hungersnot als Genozid wahrzunehmen, den das Sowjetregime bewußt organisiert habe, um die Grundlage des ukrainischen Volkes - seine Bauernschaft - zu vernichten. Der US-amerikanische Kongreß bewertete die Katastrophe von 1932/33 bereits 1988 als Genozid, weitere Länder wie Österreich, Litauen, Kanada oder Argentinien folgten. Der Europarat verurteilte die Ereignisse am 26. Januar 2005 als "Verbrechen des kommunistischen Regimes", und der polnische Senat verabschiedete am 16. März 2006 eine "Resolution über den Jahrestag der Hungersnot in der Ukraine", mit der Polen seine Solidarität mit all jenen bekundete, die für eine Anerkennung der Hungersnot als Genozid eintreten.

Manchen Politikern in der Ukraine und anderswo dürfte es auch um eine Schwächung des machtpolitisch wieder expandierenden Rußlands gehen, wenn sie diesen "Völkermord durch Aushungerung" als solchen benennen. So oder so könnte sich der Holodomor langfristig als Kristallisationspunkt des ukrainischen Nationalbewußtseins erweisen und eine Bedeutung erlangen, die dem des Holocaust für die Juden vergleichbar wäre oder den osmanischen Zwangsumsiedlungen im Ersten Weltkrieg, die Hunderttausende oder gar über 1,5 Millionen Armenier das Leben kosteten. Eine fortgesetzte antirussische Instrumentalisierung dieser wichtigen historischen Aufarbeitung müßte allerdings vermieden werden. Sie würde zu Recht russische Widerstände hervorrufen, da es sich - und das gilt es immer wieder zu betonen - um ein sowjetkommunistisches Verbrechen handelte, keinesfalls um ein russisches (zumal die Russen die zahlenmäßig mit Abstand größte Opfergruppe des mit der Oktoberrevolution begonnenen roten Terrors waren). Umgekehrt muß sich das heutige Rußland aber auch viel deutlicher vom sowjetischen Erbe distanzieren, anstatt dieses, wie es häufig geschieht, zur Stärkung neuerlicher Großmachtambitionen geschichtspolitisch wiederzubeleben.

Foto: Ausgraben von auf einem Friedhof verstecktem Getreide in der Ukraine, um 1930: Nicht wenige Fälle von Kannibalismus

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