© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/08 02. Mai 2008

Tibet und das Entrüstungsbedürfnis
Medial vermittelte Fernmoral
von Jost Bauch

Man könnte meinen, Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach, französischer Aufklärer und Enzyklopädist pfälzischer Herkunft, habe 1789, zu Zeiten der Französischen Revolution, die Tibet-Krise des Jahres 2008 vorausgesehen, als er schrieb: "Die Menschlichkeit ist ein Knoten, um den Bürger von Paris mit dem von Peking zu verbinden." Dabei entsteht, so Gottfried Benn, "die Menschheit durch Propaganda", sie muß durch Propaganda, also durch die Wirksamkeit von Massenmedien entstehen, weil "Menschheit" nicht erfahrbar ist, sie bleibt eine Idee ohne sensitives Substrat. Auch Joseph Schumpeter vermerkte in diesem Zusammenhang, daß die "kapitalistische Bourgeoisie geneigt sei, auf der Anwendung der sittlichen Gebote des Privatlebens in den internationalen Beziehungen zu bestehen".

Um von Anfang an nicht mißverstanden zu werden: Natürlich betreibt China Tibet gegenüber eine zu mißbilligende Machtpolitik, und selbstverständlich werden die Menschenrechte dabei verletzt - was natürlich zu verurteilen ist -, aber das tut China schon seit Jahrzehnten, seitdem es in Tibet einmarschiert ist. Warum also der große Protest erst jetzt? Kann es sein, daß dieses alles mit dem medialen Großereignis der Olympischen Spiele zusammenhängt, das dem Protest internationale Aufmerksamkeit und eine Szene auf der Weltbühne sichert?

Es geht hier also nicht um die moralische Qualität chinesischer Machtpolitik an sich, es geht darum, wie und nach welchen Mechanismen sich moralische Entrüstung insbesondere in der westlichen (organisierten) Öffentlichkeit entwickelt, wie sie sich von strukturellen Problemen der Politik entkoppelt und event-bezogen auf die Suche nach verwertbaren Anknüpfungsereignissen macht.

Es geht hier also nicht um die wie auch immer zu bewertende Machtpolitik Chinas, es geht um das Politikverständnis des Westens, der offiziellen Politik (vertreten durch die Regierungen des Westens, die chronisch die Menschenrechte einklagen) und der "Subpolitik" von Menschenrechtsorganisationen und ähnlicher regierungsunabhängiger Institutionen, die auf die Identifikation von Mißständen und der Herstellung von Öffentlichkeit existentiell angewiesen sind.

Die Politik des Westens in bezug auf China und andere Länder (z. B. Rußland) ist "moraldurchsetzt": Politik erschöpft sich in weiten Bereichen in der Anwendung moralischer Kategorien. Dieser Befund ist zunächst erstaunlich, hat sich die Politik doch in modernen Gesellschaften westlichen Zuschnitts entmoralisiert. Wie Niklas Luhmann festgestellt hat, muß eine Gesellschaft, die in Funktionssysteme aufgegliedert ist, auf eine moralische Integration verzichten. Denn wenn zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition im politischen System mit dem Moralcode ("gut/böse") vermengt wird, die Opposition also für strukturell schlecht oder böse erklärt wird, wäre die Demokratie schnell am Ende.

Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft hat gleichsam die moralische Kommunikation aus den Funktionssystemen herausgedrängt, sie ist nicht Teil eines Systems, sie läuft neben den Systemen her. Mit moralischer Kommunikation wird ein System von außen, nicht von innen betrachtet und bewertet. Gerade weil Moral aus den Systemen exkludiert wurde, hypertrophiert sie: Da die Öffentlichkeit die Sachdimension der Politik in weiten Bereichen nicht mehr nachvollziehen kann, bleibt ihr nur noch die moralische Beurteilung. Die Moral verliert ihre institutionelle Stütze, sie wird zur "Meinungsmoral" politisierender Privatpersonen und politischer Akteure außerhalb des engeren politischen Systems.

Cora Stephan hat Anfang der 1990er Jahre in ihrem Buch "Der Betroffenheitskult - eine politische Sittengeschichte" die Politik der Bundesrepublik treffend analysiert. Politik erscheint - bedingt durch die Schutzglocke der Nato und die Wohlstandsnische der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung - als Verlängerung der moralischen Vorstellungen des guten, wohlwollenden Bürgers, besser, des protestantischen Pfarrhauses. Politik wurde in der alten Bundesrepublik vollends von der Lebenswelt der Bürger verschluckt, von der durch mediale Dauerberieselung oktroyierten politischen Betroffenheitsmoral usurpiert. Doch schon Bismark wußte: "Entrüstung ist keine politische Kategorie." Politik läßt sich nicht auf Moral reduzieren, sie ist, so Stephan, "das wenig grandiose Rechnen mit dem Möglichen angesichts des Nötigen".

Politik ist der kontrollierte Umgang mit Macht, im Rahmen der Politik werden kollektiv verbindliche Entscheidungen durchgesetzt, Interessen gegen Interessen gesetzt. Politische Entscheidungen haben somit ihren eigenen, nicht auf Moral reduziblen Seinsgrund. Das heißt nicht, daß Politik unmoralisch zu sein hat. Die Moral läuft gleichsam parallel mit, ohne die Essenz des Politischen bestimmen zu können. Franz Joseph Strauß beispielsweise war moralisch nicht immer so integer, wie sich das heutige politische Moralapologeten so vorstellen; zweifellos aber war er ein sehr guter Politiker und hat für Bayern mehr getan als andere, die moralisch saubere Motive hegten, sich aber politisch nicht durchsetzen konnten. Politiker, so Stephan, werden heute nicht an ihrer Entscheidungs- und Sachkompetenz gemessen, sondern an ihrer "Glaubwürdigkeit" und ihrer Fähigkeit zur Inszenierung von Betroffenheit. Es kommt zu einer Privatisierung der Politik und zu einer Politisierung des Privaten. Der Fall Tibet zeigt, daß sich an diesem Politikstil auch in neuerer Zeit wenig verändert hat.

Wer im Feld der Politik moralisch argumentiert, glaubt auf der Seite der politisch Anständigen zu stehen. Er übersieht - worauf Luhmann aufmerksam gemacht hat -, daß gerade moralische Kommunikation ein großes bellizistisches Potential aufweist. Denn Moral "hat eine Tendenz, Streit zu erzeugen oder aus Streit zu entstehen und den Streit dann zu verschärfen. Moral ist polemogener Natur", so Luhmann. Denn moralische Kommunikation bringt immer menschliche Achtung oder Mißachtung zum Ausdruck.

Menschenrechte überall und uno actu einzufordern, ist Ausdruck des "Humanitarismus", so Arnold Gehlen in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral". Humanitarismus ist nach Gehlen die zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe. Auch Vilfredo Pareto betonte: "Es gibt heute eine humanitäre Religion, die den Gedankenausdruck der Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem entzieht, dann erscheint er als Ungeheuer, wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer erschienen wäre, der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte."

Der Humanitarismus hat seinen Ursprung in der Spätantike und stellt eine Erweiterung von "Instinktresiduen" dar: "Hier handelt es sich nämlich um die Ausdehnung und Entdifferenzierung des ursprünglichen Sippen-Ethos oder von Verhaltensregulationen innerhalb der Großfamilie", so Gehlen. Humanitarismus ist so eine "überdehnte Hausmoral". Moralische Gefühle entstehen im sozialen Nahbereich, sie beziehen sich auf Menschen, die man kennt und für die man sich in der einen oder anderen Form verantwortlich fühlt. In diesem Sinne ist eine universelle humanitäre Menschenliebe immer eine Überdehnung, Gehlen nennt sie auch an anderer Stelle "Fernmoral". Diese kann nur entstehen durch die Vermittlung von Massenmedien, die Nähe auch zu den fremdesten Menschen suggerieren.

Das Problem bei der Fernmoral ist mithin, daß die moralischen Gefühle sich nicht durch eigene Anschauung ausbilden können - man ist auf die Zuträgerschaft von Massenmedien angewiesen, auf "Erfahrungen zweiter Hand" und muß das moralische Urteil allein auf die Informationsvermittlung von anderen stützen. Bereits hier wird der anmaßende Charakter der Fernmoral überdeutlich: Man urteilt über Dinge, ja über Menschen, ohne daß man sicher sein kann, überhaupt die richtigen Informationen für die Urteilsbildung erhalten zu haben.

In vielen Fällen schert sich das moralische Urteil wenig um die sachliche Berechtigung. Ja, es scheint im Wesen des moralischen Urteils zu liegen, gleichsam an die Stelle des Sachlich-gut-informiert-Seins zu treten. Gerade wenn man sachlich nicht auf der Höhe der Zeit ist, erlaubt man es sich, moralisch mitzureden. Man befindet sich dann, um noch einmal mit Gehlen zu reden, "chronisch auf der Talsohle der Wirklichkeit". Überspitzt formuliert, könnte man sagen, Moral hat gegenüber Information und Informiertheit einen substitutiven Charakter. Durch die Omnipräsenz der Massenmedien müssen sich die Massen in der zusammenwachsenden Weltgesellschaft über alles eine Meinung bilden. Natürlich hat man dabei nicht die Zeit für das Detail, und so äußert sich die Meinungsbildung vornehmlich in der Verbreitung moralischer Urteile.

Es gibt offensichtlich ein öffentliches Entrüstungsbedürfnis, das durch massenmediale Inszenierung bedient werden muß. Je stärker die großen gesellschaftlichen Funktionssysteme für ihr Prozessieren Moral durch Kommunikationsmedien ersetzen, desto stärker wird die Pflege subjektiver Moral, die als Addition der massenmedial verstärkten subjektiven Meinungen daherkommt. Das ist ein vielbeachteter und wohl nicht abwendbarer Mechanismus der Massendemokratie. Schlimm wird es allerdings, wenn die "große" Politik sich dieses Entrüstungsmusters bemächtigt und danach ihren Politikstil ausrichtet. Denn das (schnelle) moralische Urteil lebt alleine vom Gegenwartsbezug, es betrachtet die Dinge, wie sie im Augenblick der Betrachtung sind, und zerrt sie vor die Urteilskraft, wie sie sich im Augenblick des Urteilens darstellen. Dabei wird Geschichte, Evolution und gesellschaftliche Entwicklung in weiten Stücken ausgeblendet, es entsteht eine Tyrannei der Aktualität.

Es ist eben nicht so einfach, den errungenen Standard der Menschenrechte in Westeuropa auf den "Rest" der Welt übertragen zu wollen. Länder wie Rußland oder China kommen aus der Diktatur und haben einen viel längeren Weg zu gehen als die Länder Westeuropas. Das vordergründige moralische Urteil ist da ganz unhistorisch und damit stark verkürzend; ja, es kann zuweilen bei uns Deutschen anmaßend wirken, die wir auch Phasen unserer Geschichte kennen, in der die Menschenwürde grob beleidigt wurde. Das schnelle moralische Urteil bekommt so eine Kompensationsfunktion: Es dient der Beruhigung des kollektiven schlechten Gewissens.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Eine Politik, die nicht die Moral ins Zentrum stellt, kann in ihren Effekten moralischer sein als jedes Fuchteln mit der Moralkeule. Doch viele Politiker schauen stärker auf den populistischen Effekt, den sie für sich verbuchen können, wenn sie das massenmedial goutierte Entrüstungsbedürfnis bedienen - was sie mit dieser Kritik am Objekt ihrer Kritik bewirken, bleibt für sie sekundär.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist es sinnvoll, die Olympischen Spiele in China auszutragen, um dadurch einen weiteren Öffnungseffekt zu initiieren. Das Land hat schon alleine durch die wirtschaftliche Entwicklung große, wenn auch zugegebenermaßen nicht ausreichende Schritte Richtung Humanitas getan. Die Olympischen Spiele werden diese positive Entwicklung bestärken, was dann auch Tibet nützt. Durch sein alleiniges Setzen auf Moral droht der Westen dagegen Widerstände und Verhärtungen zu produzieren.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die Folgen der demographischen Katastrophe (JF 04/08).

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