© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Fern der Normalität
Das deutsch-israelische Verhältnis bleibt weiter vorwiegend von der Vergangenheit bestimmt
Thorsten Hinz

Der politisch und emotional stark beanspruchte 8. Mai rückt dieses Jahr auch als 60. Gründungstag des Staates Israel ins öffentliche Bewußtsein. In mehreren deutschen Städten finden Israel-Tage statt. In Mecklenburg-Vorpommern veranstaltete der Landtag bereits im April einen Festakt, der bayerische Landtag wird im Juni ein dreitägiges Symposium abhalten. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft lädt zu einer zentralen Veranstaltung in die Frankfurter Paulskirche, die als "Wiege der deutschen Demokratie" bestens geeignet sei, "Israel als modernen, freiheitlichen, demokratischen Staat in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu rücken". Bundestagspräsident Norbert Lammert wird dort eine Rede halten.

Die Festivitäten bestätigen das deutsch-israelische Sonderverhältnis. Der Schock der nationalsozialistischen Judenverfolgung spülte nach dem Zweiten Weltkrieg alle Widerstände hinweg, die der Gründung eines jüdischen Staates bis dahin entgegengestanden hatten. Die Bundesrepublik unterstützte Israel bei seinem Aufbauwerk. Jüngst hat die Bundeskanzlerin gar erklärt, das Existenzrecht Israels gehöre aus "historischer Verantwortung" zur deutschen "Staatsräson".

Was das bedeutet, ist nicht ganz klar. Das Existenzrecht Israels ist eine Selbstverständlichkeit - wie das Existenzrecht eines jeden Landes! Klar ist weiterhin, daß Israel weltweit als Teil des Westens wahrgenommen wird, wobei seine Situation territorial und historisch-politisch ähnlich exponiert ist wie die West-Berlins im Kalten Krieg. Die Amerikaner schützten die Halbstadt, weil deren Besetzung durch die Sowjets zum psychologisch-politischen Zusammenbruch der Bundesrepublik und vermutlich ganz Westeuropas geführt hätte. Das Machtgefühl der Sowjetunion wäre ins Unermeßliche gestiegen.

Würde der Westen die Vernichtung Israels zulassen, würde das als Symptom seiner - also auch Deutschlands - Schwäche gedeutet werden. Zudem hat Deutschland ein besonderes Verständnis für israelische Existenzängste, die aus der jüdischen Leidensgeschichte herrühren, und versucht sie anderen zu vermitteln. Auch das versteht sich von selbst.

Doch Merkels Neudefinition der Staatsräson beim Wort zu nehmen, hieße, das, was Israel als sein Lebens­interesse formuliert, bei Interessens- und Rechtskollisionen als höchste "Rangordnungsregel" (so der Philosoph Wolfgang Kersting) neben oder über das eigene Lebensinteresse zu stellen. Realiter hat Deutschland kaum Möglichkeiten, die israelische Staatsräson zu beeinflussen - wobei Israel seinerseits gut daran tut, sich von Deutschland, wo außenpolitische Debatten mehr von Moralismus als von Sachkunde getrübt sind, in Überlebensfragen nicht beeindrucken zu lassen.

In der Summe bedeutete das die Unterordnung Deutschlands unter externe politische Zielvorgaben. Was will Merkel tun, wenn Israel meint, der Sicherung seines Existenzrechts wäre am besten durch den EU-Beitritt der Türkei gedient? Auch die Kanzlerin, eigentlich eine Pragmatikerin, ist von dem emotionalen Überschwang erfaßt, der das deutsch-israelische Verhältnis heute prägt.

Der Begriff "historische Verantwortung" verbindet sich dabei meist mit der faktischen Auslöschung der deutschen Nationalgeschichte, die zur Fußnote der NS-Zeit schrumpft. Und selbst das ist nur ein Zwischenstadium. Der israelische Botschafter in Berlin, Yoram Ben Zeev, zeigte sich beeindruckt davon, daß die "Deutschen nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit schauen. Sie schauen sich das nicht von außen an als etwas, das vor langer Zeit passiert ist, sondern von innen und fragen sich: Was lernen wir daraus? Es ist ein emotionales und intellektuelles Erlebnis, das mitzuerleben."

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nennt das den "aktiven, selbstkritischen und moralisch verpflichtenden Bezug auf unsere Geschichte" und - mit unbeabsichtigtem Doppelsinn - einen "unabschließbaren Prozeß". Die intellektuelle und emotionale Dimension dieses Prozesses, den er selber exekutiert, hat Steinmeier noch gar nicht erfaßt.

Der öffentliche Raum ist voller "Stolpersteine", realer und symbolischer, deren Aufgabe die Vergegenwärtigung der NS-Verbrechen und auch der deutschen Verpflichtung für Israel ist. In Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" stolpert der Erzähler am Ende über einen Pflasterstein, worauf jener unwillkürliche Moment eintritt, in dem die Vergangenheit des Erzählers mit übermächtiger Gewalt in seine Gegenwart einströmt, mit ihr identisch wird und er dadurch sein verlorenes Ich zurückerhält. Diese Vergangenheit ist keine historisch zuverlässige, sondern eine innere, essentielle Wirklichkeit. "Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit freigewordenen Menschen wieder neu erschaffen."

Die Proustsche Konstellation ist teilweise auf die Deutschen übertragbar. Diese sollen ihren der Zeitordnung und allen historischen Relativierungsversuchen enthobenen Moment im Rekurs auf die monströsen NS-Verbrechen erleben. In ihm sollen sie Lehren aus der Geschichte ziehen und sich ihre beschädigte politische, historische und kulturelle Identität neu erschaffen. Nur handelt es sich bei dieser neuen, inneren Wirklichkeit um keine Essenz ihrer historischen Existenz mehr, sondern um deren Auslöschung. Weil dieser Prozeß - und hier liegt der Unterschied zu Proust - ein widernatürlicher ist, kann er nicht unwillkürlich sein. Um ihn trotzdem in Gang zu halten, müssen Seeleningenieure permanent an der Verbesserung des Ausgangsmaterials arbeiten.

Längst wird überlegt, die Holocaust-Erziehung schon im Kindergarten beginnen zu lassen. Und weil der Prozeß ein "unabschließbarer" ist, wird der siebzigste Gründungstag Israels in Deutschland gewiß mit noch größerer Intensität begangen werden als jetzt der sechzigste.

Foto: Israelische Fahne mit Davidstern; Ewige Flamme für die Opfer des Holocaust in der Gedenkstätte Yad Vashem

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