© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

"Israel ist die Essenz jüdischer Existenz"
Welche Zukunft hat der Judenstaat sechzig Jahre nach seiner Gründung? Der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats und Neffe Mosche Dajans zieht Bilanz
Moritz Schwarz

Herr General, der Staat Israel feiert am 8. Mai sein sechzigjähriges Bestehen. Welche Bilanz würde Ihr Onkel, Mosche Dajan, heute ziehen?

Dajan: Ich muß Ihnen sagen, daß ich davor zurückscheue, im Namen meines Onkels zu sprechen. Mein Vater fiel in jungen Jahren - er war erst 22 Jahre, ich wenige Monate alt - als Soldat im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948, und so ist meine eigene Biographie eng verzahnt mit dem Kampf um unseren Staat, und mein Onkel war mir, vaterlos wie ich war, um so näher. Aber es widerstrebt mir, mir die Stimme der Toten anzumaßen. Ich spreche lieber in meinem eigenen Namen.

Sie haben als junger Offizier in den Kriegen Ihres Onkels - im legendären Sechs-Tage-Krieg von 1967 wie im verzweifelten Jom-Kippur-Krieg von 1973 - gekämpft.

Dajan: Und das wichtigste Resultat all dieser Kriege war, daß der zionistischen Idee Wirklichkeit verliehen wurde.

Das ist also Ihre Bilanz?

Dajan: Ja, mit dem Staat Israel haben wir dem jüdischen Volk eine Heimstatt gegeben.

Zweifellos stellt der Staat Israel eine erstaunliche Erfolgsgeschichte dar. Aber auch nach sechzig Jahren haben die Juden dort weder Frieden noch Sicherheit gefunden. Ist Israel wirklich ein Erfolg?

Dajan: Sie haben insofern recht mit Ihrer Frage, als Israel bekanntlich in einem asymmetrischen Dauerkonflikt lebt. Aber ist Israel nicht dennoch ein außergewöhnlicher Fall? Welchem Volk sonst auf der Welt ist es je gelungen, nach so vielen Jahrhunderten  in seine Heimat zurückzukehren und dort einen Staat zu erkämpfen, aufzubauen und zu behaupten? Und bedenken Sie, wie heute vor sechzig Jahren tatsächlich die Aussichten waren: Nicht wenige haben uns kaum eine Überlebenschance gegeben. Führende US-Politiker wirkten damals auf David Ben Gurion ein, die Staatsgründung zu verschieben, weil sie an ein Gemetzel glaubten, wenn die arabischen Nationen gemeinsam über den neuen Staat herfallen würden. Gegen alle Voraussagen haben wir Juden uns aber behauptet.

Vielen, vor allem konservativen Deutschen imponiert dieser nationale Selbstbehauptungswille ungemein, ebenso wie das überragende militärische Geschick Ihres Onkels, das sie zum Beispiel an Feldmarschall Rommel erinnert.

Dajan: Das ist ja schmeichelhaft. Aber mein Onkel sagt immer, jeder Staat müsse entscheiden, welche Flagge er hisse. Entweder die der militärischen Verteidigung oder aber die des Aufbaus. Leider wurde es in Israel lange vernachlässigt, diese Fahne der Sozioökonomie wehen zu lassen. Heute müssen wir erkennen, daß etwa Bildung für die Zukunft unseres Landes nicht weniger wichtig ist als Verteidigung. Lange Zeit hat die Bildung unter dem Krieg gelitten. Dieser Umstand führt dazu, daß der Reichtum des Landes nicht im entsprechenden Maße den Menschen zugute kommt. Mein Ziel ist es, Bildung und Frieden zu erreichen und beide zu einer sicheren Zukunft zu verbinden.

Sie sprechen sehr programmatisch. 2005 haben Sie eine eigene Partei gegründet: "Tafnit" - zu deutsch: "Wendemarke" -, die "neue Agenda für Israel".

Dajan: Leider ist uns der Einzug ins Parlament noch nicht gelungen, aber es besteht kein Zweifel daran, daß Israel eine neue Agenda braucht. Zum Beispiel müssen wir Juden für die Zukunft jüdischer werden.

Jüdischer?

Dajan: Ein Problem sehe ich darin, daß die Juden im Ausland Judentum oftmals mehr auf die Bibel als auf den Staat Israel beziehen. Was wir vermitteln müssen, ist, daß es sich beim Judentum aber nicht nur um eine Religion handelt, sondern um eine Zivilisation. Was also nottut, ist, eine Verbindung zwischen der Bibel und der Gründung des Staates Israel wiederherzustellen. Ich spreche allerdings nicht von religiöser Politik. Denn gleichzeitig muß klar sein, daß die Religion etwas Persönliches ist, das man keinem aufzwingen kann. Was ich meine, ist, daß der Zionismus den Fehler gemacht hat, den israelischen Juden als eine Art neuen Juden konstruieren zu wollen. Etwas, das nichts mit dem jüdischen Exil zu tun hatte. Das war keine gute Idee. Israel muß wieder mehr ein Teil, ja ein führendes Element in der ganzen jüdischen Welt werden.

Sie waren stellvertretender Generalstabschef, Chef des Nationalen Sicherheitsrates und Sicherheitsberater der Regierungen Barak und Scharon. Sehen Sie die Herausforderung der Zukunft denn nicht vor allem auf militärischem oder außenpolitischem Gebiet?

Dajan: Sie denken vermutlich zum Beispiel an Hamas und Hisbollah. Ich sagte schon, daß der Frieden unsere größte Herausforderung ist. Dennoch muß man sich im klaren darüber sein, daß Hamas und Hisbollah keine existenzbedrohenden Gefahren für den Staat Israel darstellen. Allerdings, wenn man Terrorismus nicht streng ächtet, dann läßt man den Schlüssel zu vielen Problemen in den Händen desselben. Deshalb darf dieser nicht als Option gelten. Terrorismus ist damit zwar keine tödliche Gefahr für den Staat Israel, aber eine tödliche Gefahr für jeden Fortschritt in puncto Zusammenleben im Nahen Osten. Terrorismus bedroht nicht den Staat, aber die Gesellschaft. Der Iran dagegen könnte eine tödliche Gefahr für Israel sein. Zwar betrachten wir Teheran nicht grundsätzlich als einen Feind, aber für sie sind wir ein Ziel. Zwar kein wehrloses Ziel, aber ein Ziel. Und es gibt eine zweite Dimension des Iran-Problems: seine Verbindung zum Terrorismus. Ergo bedeutet ein atomar gerüsteter Iran, daß Gruppierungen wie die Hisbollah in Zukunft im Schutze des nuklearen Schilds Teherans operieren könnten. Sie werden verstehen, daß das inakzeptabel ist. Ich bin sicher, auch die Europäer sind von dieser Aussicht nicht begeistert.

Ist die Hauptgefahr für die Zukunft Israels nicht weder Hamas noch der Iran, sondern das ungebremste Bevölkerungswachstum der arabischen Bevölkerung?

Dajan: Der Staat Israel hat etwa sieben Millionen Einwohner, und 10,5 Millionen Menschen leben heute insgesamt zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, wozu ja auch noch Gaza und das Westjordanland gehören. Bis 2020 werden es 15 Millionen, und nur noch 45 Prozent davon werden Juden sein. Und der Anteil der nicht-jüdischstämmigen Bevölkerung des Staates Israel wird vermutlich auf etwa 23 Prozent steigen. Das ist eine ernste Angelegenheit, aber noch keine existenzielle Bedrohung. Was freilich noch später kommen wird, darüber sollten wir uns in der Tat Gedanken machen.

Auch in Europa wächst die muslimische Einwandererschaft stetig an. Fürchten Sie den zunehmenden Einfluß der Muslime dort auf die Politik der europäischen Staaten?

Dajan: Auch das verfolgen wir aufmerksam und besorgt. Aber wir erkennen darin nicht in erster Linie eine Gefahr für Israel, sondern ein Problem für die europäischen Staaten selbst. Wir Israeli sind es gewöhnt, in einer moslemischen Umwelt zu leben. Wir können damit umgehen.

Sie zahlen allerdings auch einen hohen Preis dafür.

Dajan: Nun, die Frage ist, ob die Europäer auch willens bzw. in der Lage sein werden, den Preis zu zahlen. Aber darüber müssen sich die Europäer selbst klarwerden. Aber Sie haben insofern recht, diese Frage zu stellen, als Israel künftig auch hier eine zweite Flagge hissen bzw. höher hinaufziehen sollte: Wir sollten uns nämlich nicht nur auf die strategische Partnerschaft mit den USA konzentrieren, sondern ebenso die  Beziehungen zu Europa ausbauen. Aber wie auch immer, für uns alle, Israeli, Europäer und Amerikaner gilt, daß wir am Ende mit den Muslimen leben müssen. Deshalb sollten wir sie nicht per se als Feinde sehen. Denn schließlich müssen wir einen gemeinsamen Weg finden, wenn wir überleben wollen.

Als Gesellschaftskonzept für die Zukunft hat sich bei den europäischen Eliten immer mehr die multikulturelle Gesellschaft etabliert. Ist das für einen Nationalstaat wie Israel nicht eine strategische Gefahr?

Dajan: Nein, wenn sie unter "multikulturell" verstehen, daß es in diesem Land einen jüdischen und einen palästinensischen Staat gibt. Ja, wenn sie meinen, der jüdische Staat sollte sich multikulturalisieren. Der jüdische Staat muß pluralistisch sein, denn das war die Anfangsidee des Staates Israel: allen Juden eine jüdische und demokratische Heimat zu sein. Vermutlich ist Ihren deutschen Lesern nicht klar, was wir hierzulande unter multikulturell verstehen. Damit meinen wir nicht die Mischung von Juden und Arabern, denn beide Kulturen sind so klar unterschiedlich definiert und im Alltag so eindeutig unterschieden, daß man kaum auf die Idee kommt, daß der Begriff sich auf eine Vermischung dieser beiden Welten beziehen könnte. So haben etwa die Araber in Israel ihr eigenes Bildungssystem. Vielmehr denkt man bei uns dabei an das Zusammenleben der Juden aus dem westlichen und orientalischen Kulturkreis. Multikulturell bedeutet also bei uns eher das Recht aller Juden, nach der Kultur ihrer Herkunftsländer zu leben.

Die Europäer pflegen eine Vorstellung von Multikulturalismus, die der Nationalstaatsidee Israel entgegensteht. Sie wollen die Beziehungen zu Europa noch ausbauen, also müßte ihnen diese Entwicklung eigentlich Sorge machen.

Dajan: Der Staat Israel ist die Essenz der jüdisch-israelischen Existenz. Israel kann nur als Nationalstaat bestehen. Natürlich besteht die Gefahr, daß wenn die Europäer ihre Vorstellungen ändern, sie künftig unterschwellig kein Verständnis mehr für die Belange Israels aufbringen. Aber was sollen wir dagegen tun? Wenn die Europäer sich entscheiden, diesen Weg zu gehen, können wir sie nicht aufhalten, wir können nur darum werben, daß sie darüber nicht vergessen, daß nicht jeder ihnen auf diesem Wege zu folgen hat, und hoffen, daß sie auch in Zukunft Verständnis dafür haben, daß Israel einen anderen, einen nationalen Weg geht. Die Europäer dürfen nicht vergessen, daß nicht jeder Mensch nach dem gleichen Modell glücklich zu werden hat.

Sechzig Jahre Israel bedeuten auch sechzig Jahre mannigfaltiges Unrecht an den Palästinensern. Immer wieder verübten Juden Massaker, Vertreibungen und Entrechtung an Arabern. Bereitet Ihnen das Gewissensbisse?

Dajan: Nun, tatsächlich macht Israel heute doch jede Anstrengung, um den alten Hader endlich loszuwerden. Wir haben den Libanon geräumt, wir haben Gaza geräumt. Ich habe damals als Chef des Nationalen Sicherheitsrates erlebt, wie wir darum gerungen haben, ja, ich habe manche Verhandlungen selbst geführt. Wir sind zu territorialen Zugeständnissen bereit, denn eine Einigung ist der einzige Weg, die Zukunft zu sichern. Aber für Frieden braucht man einen Partner: einen Führer auf der anderen Seite, der den Willen und die Macht hat, den historischen Schritt zu wagen. Aber sagen Sie mir, wo finden wir heute diese historische Person auf der anderen Seite?          

 

Uzi Dajan war bis 2002 Chef des Nationalen Sicherheitsrates Israels und Sicherheitsberater der Premierminister Barak und Scharon und zuvor Vize-Generalstabs-chef der israelischen Streitkräfte. Der 1948 in Moshav Hayogev geborene Generalmajor a.D. ist der Neffe des legendären israelischen Kriegshelden, Generalstabschefs und Verteidigungsministers Mosche Dajan.

Mosche Dajan: Israels Soldatenlegende Nummer eins überraschte im Juni 1967 im siegreichen Sechs-Tage-Blitzkrieg gegen Ägypten, Jordanien und Syrien die ganze Welt. Von nun an galt die israelische Armee als unbesiegbar. Schon 1956 hatte Dajan den Sinai-Feldzug gewonnen. Allerdings trug er als Verteidigungsminister dafür Verantwortung, daß die israelischen Streitkräfte 1973 überrascht und im Jom-Kippur-Krieg beinahe geschlagen worden wären. Mit Mühe gelang es schließlich, den Angriff abzuwehren. Dajan (1915 bis 1981) blieb dennoch als militärische Legende in Erinnerung.   

Foto: Israelischer Kontrollpunkt Kalandia in Jerusalem (Oktober 2007): "Wir können mit einer moslemischen Umwelt umgehen. Können es die Europäer auch?"

 

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