© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Pankraz,
Gehlen und die Selbstverwirklichung

Manche Redeweisen gehen einem doch kräftig auf die Nerven, so etwa die Rede vom "Sich-Einbringen". Man tritt - zumindest in gehobenen Kreisen - einem Kaninchenzüchterverein oder einem Kaffeekränzchen nicht mehr einfach bei, sondern man bringt sich dort ein. Kürzlich traf Pankraz eine Bekannte aus frohen Jugendtagen, Alt-68erin inzwischen und überzeugte Gutmenschin, und man sprach darüber, was man denn so treibe. "Ich habe mich in eine Bauch-Beine-Po-Gruppe eingebracht", erzählte sie. Pankraz staunte zunächst, merkte dann aber: Sie besucht regelmäßig einen Gymnastikkurs für reifere Semester.

Im Duden steht "Sich-Einbringen" noch nicht, sowenig wie "Sich-selbst-Verwirklichen". Es sind Neologismen aus kulturrevolutionären Zeiten, als viele junge Leute zu Hause, in der Schule oder auf der Universität nichts mehr lernen, sondern nur noch "sich selbst verwirklichen" wollten. Man hielt sich von vornherein für fertig, man hatte alles schon intus, nur gab es in Form von Eltern, Lehrern, Meistern finstere Kräfte, die einen daran hinderten, das "Eigene" frei zu entfalten, die einen also regelrecht kaputtmachen wollten.

Nicht mehr das Lernen war die primäre Angelegenheit, sondern das Kaputtmachen, das Selber-Kaputtmachen. Die Hauptparole, die überall skandiert und auf Transparenten herumgetragen wurde, lautete: "Macht kaputt, was euch kaputtmacht!" Entsprechend war das generelle Verhältnis zu Institutionen und kollektiven Einrichtungen. Man war nicht etwa dankbar, daß man dort und dort mitmachen durfte, als Mitglied akzeptiert wurde. Sondern man kam von vornherein als Gebender. Man brachte zwar nichts mit außer sich selbst, aber das noch völlig ungestaltete Selbst war Geschenk genug, eine Kostbarkeit, ein Wunder ohnegleichen.

Die kalifornischen 68er, genannt "the babyboomers", sagten es noch drastischer als ihre deutschen Nachahmer. "I dedicate myself", tönten sie, wenn sie sich irgendwo einbrachten: "Ich widme mich euch, ich bringe mich euch dar". Nie zuvor hatte es in einer antretenden Generation eine derartige Anmaßung und Überheblichkeit gegeben. Sie wußten (noch) nichts, aber sie wußten (schon) alles besser. Das war keine jugendliche Keckheit mehr, sondern nur noch tierische Dummheit. Sämtliche Weisheitslehren sämtlicher Kontinente wurden auf den Kopf gestellt.

Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Ein flächendeckender Prozeß der Versimpelung und der Verblödung setzte ein, der noch heute nicht gestoppt ist. Der Mensch ist nun mal ein intensiv lernendes Tier, und wenn er nicht lernt, verblödet er eben; selbst seine "naturgegebenen" Antriebe und Wahrnehmungskräfte verkümmern dann. Das menschliche Gehirn insgesamt (nicht nur bestimmte Regionen von ihm) ist eine einzige Lernmaschine, und diese will blank gehalten, will dauernd mit Aufgaben und Lösungsangeboten gefüttert werden. Wer rastet, der rostet.

"Ich will mich selbst verwirklichen!" Wer so spricht, der muß sich zunächst einmal klarmachen, daß sein Selbst jenseits der Lernwilligkeit das reine Nichts ist, eine dunkle Stelle, vielleicht die dunkelste Stelle, die es gibt. Nicht einmal unsere genetische Ausstattung gehört ja genuin uns selbst, sie wurde uns von unseren Ahnen vererbt. Auch im Umgang mit unseren Genen müssen wir unentwegt lernen. Wir müssen lernen, uns auf sie einzustellen, mit ihnen umzugehen, ihre Wirkungskräfte entweder zu optimieren oder zu minimieren. Wer dergleichen versäumt, der muß auf böse Überraschungen gefaßt sein.

Es könnte sich nämlich herausstellen, daß er als Selbst nicht das Geringste zu bieten hat, daß seine Selbstverwirklichung darin besteht, Anderes, Äußeres blindlings nachzuahmen, ohne sich über Sinn und Verstand solcher Nachahmung klarwerden zu können. Bei den meisten 68ern war das der Fall. Sie frönten der ödesten marxistischen Gleichmacherideologie; alle sollten sich selbst verwirklichen, aber herauskommen sollte am Ende bei allen das gleiche.

Arnold Gehlen hat es in seiner bekannten Institutionenlehre auf den Begriff gebracht: Der einzelne Mensch ist im statistischen Durchschnitt gar nicht in der Lage, irgend etwas, geschweige denn sich selbst, zu "verwirklichen". Er ist von Natur aus ein "Mängelwesen", eingebunden in den Schwarm, dessen Gesetzen er spontan gehorcht, er ist vorab Mitglied von Institutionen, die ihm äußeren wie inneren Halt geben und ihm im günstigen Fall auch existentielle Befriedigung und Lebenssinn verschaffen.

Je symbolhaltiger, farbiger, ehrwürdiger die Institution, um so größer die Chance, daß sie Befriedigung und Lebenssinn für den einzelnen abstrahlt, ihn gegebenenfalls auch zum vollen Einsatz für ihren Bestand und ihr Blühen anspornt. Institutionen hingegen, die der Wirklichkeit nicht (mehr) gewachsen sind, deren Formen nichts Wirkliches mehr enthalten und die von der diskutierenden Klasse mit mehr oder weniger Recht nur noch verhöhnt und niedergequatscht werden, sind pures Gift für die Befindlichkeit des einzelnen. Er fühlt sich dann möglicherweise wie eine Biene, der soeben der Korb inklusive Königin ausgeräuchert wird.

Das ist der Zeitpunkt, wo viele beginnen, sich nach "Selbstverwirklichung" zu sehnen. Ihr Bemühen ist, genau betrachtet, gar nicht Ausfluß stolzer Anmaßung, sondern ganz im Gegenteil purer Verzweiflung, sieht verdächtig nach "Rette sich, wer kann!" aus.

Um so wichtiger die Anmerkung: Nicht immer sind die Institutionen selbst am Debakel schuld. Das Bild mit dem Imker, der den Korb ausräuchert, widerlegt dieses Klischee. Auch völlig gesunde Bienenvölker können untergehen, wenn mächtige Ausräucherer von außen darauf hinarbeiten, Weltgleichmacher vom Stile Mao Tse-tungs etwa, dem so viele 68er auf den Leim gingen.

Heute muß man konstatieren: Daß sich die Selbstverwirklicher ausgerechnet bei Mao einbringen wollten, hat doch ziemliches Unheil angerichtet. Nicht einmal die deutsche Umgangssprache ist davon verschont geblieben.

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