© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Der Retter aus der Rückständigkeit
Der Germanist Ludger Lütkehaus erinnert an den mohammedanischen Aufklärer Ibn Rushd und seine Rolle für das Abendland
Stefan Etzel

Daß dem Islam nicht das Licht der Aufklärung den Weg in die Moderne geleuchtet habe, wird von Kritikern wie Verteidigern der Religion Mohammeds gern ins Felde geführt, um deren "Rückständigkeit" entweder zu erklären oder zu entschuldigen. Dabei setzte im islamischen Kulturkreis mit dem 873 gestorbenen Abu Yusuf al-Kindi schon sehr früh eine aufklärerische Denkbewegung ein, in welcher schon gut zweihundert Jahre nach dem Tod des Propheten der grundsätzliche Antagonismus zwischen philosophischer Vernunft und religiöser Offenbarung thematisiert wurde. Schluß- und Höhepunkt einer ganzen Kette großer muslimischer Philosophen war der 1126 in Cordoba geborene Ibn Rushd, der im lateinischen Westen unter dem Namen Averroes bekannt wurde. Dem Leben, Werk und Einfluß dieses außergewöhnlichen Denkers, der 1198 nach dreijährigem Exil in Marrakesch starb, hat der Literaturwissenschaftler Ludger Lütkehaus einen biographischen Essay gewidmet, der in gewohnt gediegener Ausstattung von der Basilisken-Presse Marburg aufgelegt wurde.

Mit seinem Bemühen, eine Verbindung zwischen rationaler Vernunft und Glaubensoffenbarung herzustellen, hatte Ibn Rushd-Averroes nicht nur die islamische, sondern auch die christliche Lehre erschüttert - ja, im Rückblick läßt sich hierin seine eigentliche, langfristig wirkende Bedeutung erkennen. Während seine Lehre nämlich von der islamischen Orthodoxie wirksam unterdrückt und Rushd in die Verbannung gezwungen wurde, kann die Ausstrahlung seines Denkens auf die westliche Wissenschaft kaum überschätzt werden. Der ägyptische Philosoph Murad Wahhaba - der wie viele arabische Intellektuelle und die meisten Orientalisten das Ende der Philosophie im Islam mit dem Tode Ibn Rushds gleichsetzt - spricht denn auch von einem "Averroes-Paradox": Während der Averroismus als philosophischer Trend genau in dem Moment eine wirksame Rolle bei der Herausbildung des europäischen Bewußtseins spielte, als es sich im Übergang vom Mittelalter via Humanismus und Renaissance zur Aufklärung befand, wurde dieser wirkmächtige Impuls von der islamischen Kultur vollkommen zurückgewiesen, womit deren oftmals beklagte "Rückständigkeit" ihren Anfang nahm.

Rushds Ausstrahlung beruhte auf seinen Satz-für-Satz-Kommentaren der Werke des im Abendland in Vergessenheit geratenen Aristoteles, die so nicht nur der Menschheit bewahrt, sondern auf dem damals noch überlegenen Stand der arabischen Wissenschaften erschlossen und weiterentwickelt wurden. Mit Aristoteles brachte Rushd die Empirie, das "Licht der Natur", gegen die Offenbarung in Stellung. Die Welt der Erscheinungen geriet so ins Zentrum des Interesses und nicht das, was sich an "Ideen" möglicherweise hinter ihnen verbergen könnte. Die nüchterne Frage, wie und warum etwas funktioniert wurde damit wichtiger als die nach dem wozu. In seiner Kausalitätslehre vertrat Rushd-Averroes den notwendigen Zusammenhang aller Dinge und ließ de facto keinen Raum mehr für eine göttliche Schöpfung aus dem Nichts. Damit wurde er zum Feind jedweder Religion, was auch im christlichen Abendland so gesehen wurde (Aristoteles-Verbote als unmittelbare Auswirkung von Rushds Einfluß).

An dieser Stelle hätte man sich gewünscht, daß Ludger Lütkehaus den Faden ideengeschichtlich noch etwas weitergesponnen hätte, was aber wohl den Rahmen eines biographischen Essays sprengt. Man hätte dann sehen können, wie sich der Aristotelismus des Averroes gut hundert Jahre nach dessen Tod im Universalienstreit der Scholastik etwa in Gestalt des Nominalismus eines William von Ockham niederschlug. Dessen radikale Trennung ("Ockhams Rasiermesser") zwischen Glaube und Wissen, empirischer und metaphysischer Welt trug entscheidend zu jenem Gedankenstrom bei, der nicht nur den technischen Machbarkeitsglauben der westlichen Welt beflügelte, sondern letztlich auch zu Reformation und Aufklärung führte. Ockham hatte auch als einer der ersten die Trennung von Kirche und Staat gefordert, da es keine notwendige Korrespondenz zwischen dem Geist Gottes und der sozialen Ordnung gebe.

Hier zeigt sich die Aktualität und Brisanz Ibn Rushds bis in heutige innerislamische Debatten hinein. Sayyid Qutb, bis zu seinem Tode 1966 Chefideologe der Muslimbruderschaft und bis heute einer der einflußreichsten Vordenker des fundamentalistischen Islam, sprach von der "schrecklichen Spaltung" des modernen Lebens und der "trostlosen Trennung" von Religion und Staat in den modernen Gesellschaften. Diese Spaltung habe ihre Ursache in dem irreführenden Glauben an die Macht menschlicher Vernunft, der letztlich auf die "Unwissenheit" antiker griechischer Philosophen wie Aristoteles zurückgehe, eine Unwissenheit, die über irregeleitete Denker wie Rushd Eingang in die philosophische Tradition des Christentums gefunden und über dessen expansive Kulturentwicklung zerstörerisch auf die islamische Welt zurückgewirkt habe.    

Ludger Lütkehaus: Ibn Rushd. Ein islamischer Aufklärer. Biographischer Essay. Basilisken-Presse, Marburg 2008, broschiert, 32 Seiten, 18 Euro

Fotos: Denkmal für Ibn Rushd-Averroes im spanischen Córdoba: Für Muslimbrüder ein durch antike griechische Denker Irregeleiteter; Foto: Ibn Rushd im Rafael-Gemälde (Vatikan) verewigt

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