© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Puzzle mit tausend Teilen: Die Entdeckung der größten bislang bekannten Kultstätte
Die Dämmerung der Kelten
Baal Müller

Ähnlich wie die Germanen erfahren die Kelten derzeit durch neue archäologische Funde und verfeinerte Forschungsmethoden eine Neubewertung, die das alte Klischee der barbarischen, ihren römischen und griechischen Zeitgenossen kulturell unterlegenen Halbwilden als Vorurteil eines einseitig auf die mediterrane Antike fixierten Bildungsbegriffs entlarvt. Die Tatsache beispielsweise, daß aus der germanischen Völkerwanderungszeit so wenig Texte überliefert sind, bedeutet nicht, daß die damaligen Volksstämme völlig schriftlos gewesen wären, sondern hängt damit zusammen, daß etwa unter Ludwig dem Frommen ganze Berge an Literatur vernichtet wurden. Auch daß die Kelten keine eigene Schrift besaßen, sondern sich - lediglich für profane Notizen - des griechischen Alphabets bedienten, besagt noch nicht, daß sie "primitiv" waren: Vielmehr wollten sie ihr heiliges Wissen keiner Schrift anvertrauen.

Ein philosophischer Reflex solchen altertümlichen Vorbehaltes findet sich noch in der platonischen Schriftkritik. Und glaubte man früher, die Kelten hätten nur in kleinen Dörfern und Gehöften gewohnt, so belegen neue Funde die Existenz großer keltischer Städte aus vorrömischer Zeit.

Jüngst hat man im Westschweizer Kanton Waadt auf einem mächtigen Kalksteinhügel, dem Mormont, eine spektakuläre Entdeckung gemacht: Hunderte von Kammern, die mit wertvollen Gegenständen, Tier- und Menschenknochen gefüllt sind, fügen sich zum Gesamtbild der größten heute bekannten keltischen Kultstätte. Der Film "Die Dämmerung der Kelten" von Stéphane Goël, der am 10. Mai um 21 Uhr von Arte ausgestrahlt wird, läßt den Zuschauer ein Team von Archäologen bei ihrer Arbeit in den feuchten, lehmigen Gruben begleiten, die leider aufgrund ökonomischer "Sachzwänge" einer engen zeitlichen Limitierung unterworfen ist: Nur wenige Monate wurden ihnen für die Bergung der sensationellen Funde eingeräumt, bevor die Grabungsstätte im größten Steinbruch des Landes endgültig den Baggern zum Opfer fällt. Computermodelle, die die architektonischen Dimensionen erahnen lassen, Handzeichnungen und Szenen, in denen "Kelten" auftreten, ergänzen die Darstellung der Grabungsarbeiten, die das eigentliche Thema des nüchtern gehaltenen Filmes darstellen.

 Wer aufgrund der Betonung, daß die Funde neue Erkenntnisse über die keltische Religion liefern könnten, solche auch erwartet, wird allerdings etwas enttäuscht; und die Erläuterungen der Experten bleiben leider Gemeinplätze von der Art, daß ein Puzzle mit tausend Teilen nicht anhand zweier Teile zusammengesetzt werden könne oder daß die Weltanschauung "moderner Druiden" lediglich auf Spekulationen beruhe. Auch die seriöse Wissenschaft muß indes zugeben, daß die Rekonstruktion der keltischen Kultur einer gewissen Phantasie bedarf, nur wird sie immer die Grenze angeben, wo die empirisch abgesicherte Zusammenfügung der Puzzleteile aufhört und die Spekulation - oder besser: die Intuition - beginnt.

Etwas erstaunlich ist die Aufmerksamkeit, die der Film der Frage nach den Menschenopfern widmet. Daß es solche bei den Kelten allgemein gab, ist - im Gegensatz zum derzeitigen Kenntnisstand hinsichtlich der Germanen - gewiß; merkwürdig ist aber die Empfehlung, sich die Vorstellung von den Kelten als unseren Vorfahren abzugewöhnen, um Menschenopfer als historische Gegebenheit besser akzeptieren zu können.

Was ist davon zu halten, eine Realität - daß der größte Teil der Mittel- und Westeuropäer von den Kelten abstammt - zugunsten einer anderen zu leugnen? Man muß sich die positive Bezugnahme auf diese Wurzeln nicht von der Grausamkeit vergangener Sitten verleiden lassen und sollte Grausamkeit auch nicht mit Primitivität gleichsetzen.

Während in Frankreich die Berufung auf das keltische Erbe ein Teil der im neunzehnten Jahrhundert entwickelten Nationalmythologie ist, haben die Kelten in Deutschland eher einen "alternativen" Charakter: Trotz Menschenopfer werden sie, namentlich von Frauen, die auf spiritueller Suche sind, als "edle Wilde" und "Indianer Europas" wahrgenommen, während sich Männer mit ähnlicher Orientierung eher mit den Germanen identifizieren - allerdings verschleifen sich diese Unterschiede aufgrund einer allmählichen Entideologisierung und Enttabuisierung des Germanenbildes zunehmend. Unsere Abstammung ist ohnehin nicht vom jeweiligen Stand der Forschung abhängig, wohl aber unser Wissen von unserer kulturellen Urgeschichte - und damit auch unser emotionales Verhältnis zu dieser.                         

Fotos: Opfergabe an die Götter auf dem Gipfel des Mormont: Auch die seriöse Wissenschaft braucht Phantasie (Zeichnung von A. Houot); Foto: Grabungsergebnis: Eine enthauptete Frau

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