© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Der kalte Putsch
Brüsseler Rätesystem: Der Vertrag von Lissabon könnte der letzte Sargnagel für das Grundgesetz sein
Michael Paulwitz

Keine Verfassung ist unverwundbar. Ist sich die politische Klasse einig, kann sie jedes Staatsgrundgesetz so lange aushöhlen, bis es zur substanzlosen und sinnentleerten Hülle degradiert ist. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dem seine Verfassungsväter aus frisch brennender historischer Erfahrung besonders starke Sicherungen gegen seine Pervertierung unter dem Mäntelchen der Legalität mitgegeben haben, ist gegen schleichende konsensgestützte Erdrosselung nicht gefeit.

Es trieft von historischer Ironie, wenn ausgerechnet am 23. Mai, dem Tag des Grundgesetzes, die Länderkammer mit ihrer Zustimmung die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon perfekt machen will. In künftigen deutschen Geschichtsbüchern – so sie denn noch geschrieben werden – hat dieser Vertrag beste Aussichten, als einer der letzten Nägel im Sarg des Grundgesetzes verzeichnet zu werden.

Lissabon treibt auf die Spitze, was schon in Maastricht entscheidend beschleunigt wurde: die Abgabe eines Großteils der nationalstaatlichen Entscheidungsfreiheit an die EU. Mit dem Ergebnis, daß die Bundesjustizministerin kürzlich ohne jeden Anflug von Empörung konstatierte, 84 Prozent der für Deutschland verbindlichen Rechtsakte seien zwischen 1998 und 2004 aus Brüssel gekommen, nur 16 Prozent aus Berlin.

Aus kosmetischen Gründen heißt der Vertrag von Lissabon nicht mehr „EU-Verfassung“. Dennoch ist er eine. Nicht nur dem Inhalt nach, der zu fast hundert Prozent mit dem von zwei europäischen Nationen in Volksabstimmungen zu Fall gebrachten gleichnamigen Vorgängerdokument deckungsgleich ist. Lissabon will auch dem Anspruch nach eine Verfassung sein, allerdings eine vordemokratische – ohne Staatsvolk, verfassunggebende Gewalt und Verfassungsauftrag. Den hat sich die ausführende Gewalt, ähnlich wie die konstitutionellen Monarchen vor zwei Jahrhunderten, kurzerhand selbst gegeben. Ein Kollektiv von Majestäten geruhte eine Verfassung zu erlassen und die Union zur konstitutionellen Rätediktatur weiterzuentwickeln mit der EU-Kommission als Politbüro und einem weitgehend auf akklamatorische Aufgaben beschränkten EU-Parlament als oberstem Sowjet.

In diesem undemokratisch verfaßten Überstaat haben die Völker nichts mehr zu sagen, weil sie dessen Exekutive nicht abwählen können. Das Grundgesetz wird zur Regionalfolklore herabgestuft, nationale Wahlen werden zur Farce. Egal, wen die Deutschen wählen, einen Politikwechsel können sie in Kernbereichen nicht mehr erzwingen, weil die Richtlinien der Politik von einer Instanz vorgegeben werden, die sie nicht mehr kontrollieren können, und weil die Masse der Gesetze nicht mehr in den Parlamenten gemacht wird, sondern als umzusetzende Richtlinie von der europäischen Exekutive kommt. Der Zweifel von Alt-Bundespräsident Roman Herzog, ob angesichts dieser faktischen Aushebelung der Gewaltenteilung die Bundesrepublik nach Lissabon noch eine Demokratie sei, trifft ins Schwarze.

Die Gründe für die nahezu einmütige Kollaboration der politischen Klasse bei diesem Prozeß mag man zum einen in der Ignoranz und Inkompetenz eines Großteils der Abgeordneten und Verantwortungsträger suchen, die in betriebsblindem Parteienegoismus die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht übersehen können oder wollen. Zum zweiten in der Vorliebe für das von Herzog kritisierte „Spiel über Bande“: Statt unbequeme Vorhaben im regulären Gesetzgebungsverfahren zur Diskussion zu stellen, kungelt man als Minister oder Regierungschef lieber in Brüssel, von wo das Gewünschte als bindende Weisung wieder zurückkommt.

Zum dritten hat der britische Euroskeptiker Daniel Hannan als Quelle des spezifisch deutschen Eurofanatismus nicht etwa, wie gerade auf der Insel gern geargwöhnt wird, eine Neuauflage alter Großmachtphantasien ausgemacht, sondern das genaue Gegenteil: ein weitverbreitetes Gefühl der nationalen Selbstverleugnung, das an Selbsthaß grenzt und Erlösung im Aufgehen in einer neuen, europäischen Identität sucht.

Das ist besonders fatal, weil Deutschland von der Entmündigung durch die Brüsseler Räteherrschaft nicht nur, wie alle europäischen Nationen, durch die verselbständigte Expansion einer Bürokratie betroffen ist, die aus jedem neuen Einmischungstatbestand schon den nächsten ableitet und aus neuen Organen erweiterte Zuständigkeiten, aus denen sie wieder neue Organe gebiert.

Seit ihren ersten Anfängen als „Montanunion“ trägt die Europäische Union eine antideutsche Komponente in sich. An ihrer Wiege stand das französische Bestreben, durch staatenübergreifende Bürokratien den Nachbarn unter Kontrolle zu halten, und das deutsche Kalkül, internationale Akzeptanz durch Souveränitätsverzicht zu erkaufen. Die Konstellation wiederholte sich nach dem Epochenbruch von 1989: Kanzler Kohl erkaufte die Zustimmung Frankreichs und anderer Wiedervereinigungsgegner zur deutschen Einheit durch die Opferung der D-Mark und des Souveränitätsrechts der Währungshoheit und durch den Umbau der EG zu einer hauptsächlich von Deutschland zu finanzierenden Umverteilungsbürokratie. „Maastricht, das ist der Versailler Vertrag ohne Krieg“, frohlockte damals eine konservative französische Tageszeitung. Der Rückfall in das Denken der Zwischenkriegszeit hat der Entwicklung des europäischen Zusammenschlusses endgültig eine Richtung gegeben, die nicht nur den Deutschen schadet, sondern allen Europäern.

Die Zeit wird knapp für die europäischen Völker, um aus solchen Erkenntnissen noch politische Konsequenzen zu ziehen und sich den Plänen ihrer Regierungen entgegenzustellen. Mit Brosamen wie erweiterten Informationsrechten für die eben entmachteten nationalen Parlamente sollten sie sich nicht abspeisen lassen. Die EU muß wieder ein Zweckverband souveräner Staaten werden ohne den Anspruch auf eigene Staatlichkeit. Alles andere ist verfassungswidrig.

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