© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Pankraz,
E. Jelinek und die Opfer von Amstetten

Jeder redet über Amstetten, jetzt auch Nobelpreisträgerinnen. Elfriede Jelinek hat den Fall sogleich in ihren Internetroman „Neid“ aufgenommen, und sie vergleicht darin „das Monster“ Josef Fritzl direkt mit dem lieben Gott der Christenheit. Dieser erscheint bekanntlich als Dreieinigkeit von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist; das Monster Fritzl sei den Seinen in der Unterwelt als Dreieinigkeit von Vater, Großvater und absolutem Oberbefehlshaber erschienen und als solche auch akzeptiert worden. Das sei kein Wunder, sagt Jelinek, denn so seien die Christen nun mal, speziell die Österreicher.

Die Behauptung ist selber monströs. Natürlich ist der Fritzl kein Gott, nicht einmal ein abgefallener, nicht einmal ein Widergott und leibhaftiger Unterweltsteufel. Und gewiß haben ihn seine Opfer auch nie für Gott oder für den Teufel gehalten. Sie hatten ja Radio und Fernsehen, sie wußten wenigstens ungefähr, wie es „oben“ zuging und welch geringen Platz der Fritzl in der Hierarchie der Oberweltler einnahm. Sie wußten, daß ihr Opa-Vati nichts weiter war als ein schlimmer Verbrecher, der die schlimmsten Strafen zu gewärtigen hatte, sobald etwas über seine Taten herauskäme.

Trotzdem (oder gerade deshalb) bleibt ein Rätsel, ein unheimliches Fragezeichen. Warum haben sie sich das alles, was ihnen der Fritzl antat, gefallen lassen, jahrelang, jahrzehntelang, ein Vierteljahrhundert lang? Sicherlich, der Mann verstand sein „Handwerk“. Er brachte Essen und Trinken, Windeln zum Wickeln der Babies, Jacken und Hosen für die Jungen, Kleidchen für die Mädchen, sogar – außer dem Fernsehen – Spielsachen, um die Kinder zu unterhalten, ihnen „die Zeit totzuschlagen“.

Andererseits aber war er doch von Anfang an der Unhold, der Wehtäter, der Vergewaltiger. Er füllte die kleine Unterwelt mit seinem Schreckens-Gestank, er tat der Mutti regelmäßig Böses an, er war der Kotzbrocken, der einem den Weg zur Freiheit verlegte, der Herr der Schlüssel und der elektronischen Riegel. Und dabei erkennbar ein Nichts, ein Einzeltäter, dem niemand beispringen würde, wenn man ihn erst einmal beim Wickel hätte.

Pankraz versucht, sich in die Seelen der heranwachsenden Jungen hineinzuversetzen. Es sind mit Sicherheit „ganz normale Jungen“, spätestens ab vierzehn auf bohrendes Nachfragen aus, auf Widerspruch und freche Aufsässigkeit. Sie merken, auch wenn sie nicht zur Schule gegangen sind, wie wenig in ihrer Kellerwelt stimmt, welch ungeheure Räume ihnen gewaltsam vorenthalten werden, in welcher Monströsität sie gefangen sind.

Und sie entdecken mit jugendlichem Scharfblick natürlich auch schnell die Schwachstellen des Fritzl, kriegen mit, wo er seine Schlüssel und Elektroschalter verbirgt, daß er überhaupt als bald siebzig Jahre alter Knacker einem gemeinsamen Angriff der vereinten Kellerinsassen nicht gewachsen wäre. Daß auch sie selbst bei einem solchen Angriff etwas abbekommen könnten, schreckt sie nicht, zu einem ordentlichen Kampf sind sie allemal aufgelegt.

Weshalb ist es da (nach allem, was bis heute bekanntgeworden ist) dennoch nie zu einer ernsthaften Keilerei in dem Keller gekommen, nie zu einem nennenswerten Aufstand gegen das Monster? Selbst im Christentum mit seiner heiligen Dreieinigkeit hat es doch – um noch einmal auf den lästerlichen Vergleich der Jelinek zurückzukommen – immer wieder Aufbegehren gegen den Willen des Höchsten gegeben, langwierige Ketzerkriege, Reformationen der umstürzendsten Art. Nichts davon offenbar im Verlies von Amstetten. Alles ging dort offenbar seinen vorbestimmten Gang.

„Der Fritzl, das Monster“, so tönte es in einer Boulevardzeitung, „war eben ein großer Organisator. Er hatte immer alles im Griff. Er brüllte und streichelte, vergewaltigte und ließ die Kinder auf seinen Knien Hopsasa machen, baute aus und baute um, und das ging so 24 Jahre lang. Seine elektrischen Sicherheitsvorkehrungen waren genial.“ Wenn man so etwas liest, könnte man beinahe an die von Jelinek nahegelegte Gottähnlichkeit des Monsters glauben. Einige Psychologen, die in großen Betrieben Trainingskurse für geistig-operationelle Fitneß abhalten, ziehen denn auch insgeheim schon den Hut vor ihm.

Zu Unrecht, findet Pankraz. Wer es nötig hat, sich trotz einer guten Stellung in der normalen bürgerlichen Welt zum Verbrecher an den eigenen Kindern zu machen und zur Auslebung seiner Triebe eine ganz und gar eigene, anfaßbare und ausgedehnte Unterwelt zu organisieren, der ist kein Organisationsgenie, sondern ein Esel, der sich freiwillig um das Beste im Leben bringt. Er kommt vor lauter Organisiererei und Geheimhalterei gar nicht mehr zum richtigen Leben. Er nimmt die Hölle schon vorweg, in der er eines Tages sowieso landen dürfte.

Den eigentlichen Anlaß zum Nachdenken und zum Schlüsseziehen liefern die Opfer. Der Mensch kann viel aushalten, auch über ungeheuer lange Zeiträume hinweg, und je größer das Leid ist, das er erdulden muß, um so mehr Honig und Trost saugt er aus den kleinen Pausen und Nebenwirkungen der Misere. Diesen Tatbestand kennt man schon aus den Kerkern der alten Zeit, in denen oft ganz junge Kronprätendenten, weil den aktuell Herrschenden unbequem, jahrzehntelang gefangengehalten wurden, und aus den Lagern des Archipel Gulag im zwanzigsten Jahrhundert.

Was Amstetten an Neuem beiträgt, ist dies: Es bedarf, um standzuhalten und den Verstand nicht zu verlieren, nicht unbedingt eines Glaubens an einen Gott oder an irgendeine Utopie. Im Keller von Amstetten gab es weder Gottesdienst noch Parteiunterricht, so weit reichte das Organisationstalent des Monsters wohl nicht. Die Opfer hatten sich mit diesem dauerhaft arrangiert, aber Menschen geblieben sind sie trotzdem, Kinder der Transzendenz und der Freiheit.

Für die einen mag das eine nicht unbedingt gute Botschaft sein, für andere (Pankraz gehört dazu) ist sie tröstlich. Für die Freiheit ist es nie zu spät.

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