© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Der heißeste Atem des schaffenden Jetzt
Annäherungen an den „kosmopolitischen Deutschen“ und „kämpferischen Germanisten“ Herbert Cysarz
Martin Lichtmesz

Der Name Herbert Cysarz ist heute nur noch wenigen ein Begriff. In der Zeit zwischen den Weltkriegen galt der 1896 im österreichisch-schlesischen Oderberg geborene Germanist und Philosoph als einer der feurigsten Köpfe seiner Generation. Cysarz hatte sich zunächst den Naturwissenschaften zugewandt. Durch eine schwere Kriegsverletzung im Jahre 1916 verlor er eine Hand, die andere blieb verstümmelt, zusätzlich wurden Gehör und Augenlicht geschädigt. Unfähig zum naturwissenschaftlichen Experiment widmete er sich nun der Germanistik und Anglistik. Cysarz promovierte 1919 in Wien, wo er ab 1924 Vorlesungen hielt. Von 1928 bis 1937 war er Ordinarius für neuere Germanistik an der Deutschen Universität Prag. In diese Zeit fallen sowohl der Höhepunkt seines Wirkens als auch jene Verstrickungen, die ihn nach 1945 in den „Pferch“ verdammten, als den er die geistige Atmosphäre der Bundesrepublik bezeichnete.

Cysarz war ein leidenschaftlicher Unterstützer des sudetendeutschen „Volkstumkampfes“ der zwanziger und dreißiger Jahre. Eine Art „Ehrenmitgliedschaft“ in der Sudetendeutschen Partei führte 1940 zu einer automatischen Eingliederung in die NSDAP. Cysarz politischer Lebenslauf, über den er in seiner Autobiographie „Vielfelderwirtschaft“ (1976) ausführlich Rechenschaft ablegte, liegt quer zu allen Bewältigungsschablonen. Als „kosmopolitischer Deutscher“ war er weder „Rassist“ noch ein „anti-internationaler Nationalist“; nichtsdestotrotz empfand er das Dritte Reich Ende 1938 als „ungeheures Baugelände“, dem zu diesem Zeitpunkt noch viele Wege offenstanden.

Doch das bestehende System war zu eng für Geister wie Cysarz. Nach seinem Wechsel an die Universität München wurde er von einem Vertreter des „NS-Studentenbundes“ wegen „Begünstigung von Juden und Landesverrätern“ denunziert – er hatte in seinen Vorlesungen auch jüdische und vom Dritten Reich verpönte Autoren gewürdigt. Weiter wurde Cysarz’ Freundschaft zu dem 1930 verstorbenen Friedrich Gundolf ins Feld geführt. Wegen seiner Kriegsversehrtheit hatte die Denunziation allerdings keine Folgen.

Nach Kriegsende stand der schwerkranke und beinah mittellose Cysarz quasi vor dem Nichts; seine Universitätskarriere war aufgrund seines politischen Engagements beendet. Bis zu seinem Tod im hohen Alter von 89 Jahren publizierte Cysarz noch zahlreiche gewichtige Werke zu zeitgeschichtlichen, literaturwissenschaftlichen und politischen Themen sowie mehrere hundert Aufsätze und zwei Romane, „Neumond“ (1956) und „Arkadien“ (1967). Seine politischen Schriften erschienen vor allem im Umfeld sudetendeutscher Verlage, zuletzt nur mehr in Organen des „rechten Ghettos“.

Der „politische“ Cysarz wartet noch auf seine Wiederentdeckung. So wandte er sich bereits 1961 in dem Büchlein „Das deutsche Nationalbewußtsein“ gegen eine einseitige „Vergangenheitsbewältigung“ avant la lettre. Sein geschichtlich fundiertes Plädoyer für eine Renaissance des Nationalbewußtseins beinhaltete eine scharfe Kritik an den Exzessen des Nationalsozialismus. Schon früh diagnostizierte er den geistigen „Bürgerkriegszustand“, die „Ausscheidungskämpfe um eine Meinungsdiktatur“ in Deutschland, und nannte die „binnen-bundesdeutsche Mauer zwischen ‘Links’ und ‘Rechts’“ eine „verderbliche Einrichtung im deutschen Geistesleben“.

Es ist indessen weniger der „politische“ Cysarz, den Hans-Dietrich Sander, Herausgeber der bei Lindenblatt Media erschienenen Anthologie „Bild und Begriff“, dem Vergessen entreißen möchte. Der Impuls dieses „Lesebuchs zum Wiedereinstieg in die deutsche Dichtkunst“ richtet sich vor allem an die Germanisten. Sander selbst wurde nach Publikation einer literaturgeschichtlichen Arbeit zum In- und Widersassen des „Pferchs“. Seine umstrittene „Geschichte der Schönen Literatur in der DDR“ (1972) stand dem Geiste Josef Nadlers und eben Herbert Cysarz’ nahe, dessen Werk Sander zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht kannte.

Im Vorwort beklagt er den Verfall der Germanistik in Deutschland und nennt drei Ursachen: „die Beschränkung auf Philologie und Chronologie, das Eindringen der ideologischen Urteilsmacht und die unzureichende Abwehr durch werkimmanente Betrachtung“. Gegen den Medusenblick aller drei Tendenzen hat sich Herbert Cysarz schon früh ausgesprochen. Die Literaturwissenschaft sollte die betrachteten Werke nicht in „Museumsstücke“ verwandeln, sondern über ihre Disziplin hinaus die Durchdringung des Lebens mit dem „schöpferischen Geist“ fördern, wach und empfänglich halten für die, wie Sander formuliert, „mobilisierende Kraft der deutschen Dichtung“: „Der Inhalt jeder wirklichen Geistesgeschichte also ist erstlich ein Vergegenwärtigen des geschichtlichen Lebens, zweitens ein Verunendlichen des so Vergegenwärtigten. Der heißeste Atem des schaffenden Jetzt schafft als zeugende Spannung fort.“

Diese Betrachtung setzt freilich einen Kunstsinn voraus, der an den heutigen Universitäten, sowohl unter Dozenten als auch Zuhörern, geradezu verpönt ist. Die Rede von der „Kunst“ und gar von dem „Unsterblichen“ in ihr ist zum Teil unverständlich, wenn nicht anrüchig geworden. Cysarz nähert sich den großen Dichtern mit einer Ehrfurcht, die heute als lächerlich und widerlegt gilt. „Den Namen Hölderlin nennen heißt vor ein Heiligtum, ein verschleiertes Bildnis treten“ oder über Goethe: „Es ist etwas unsagbar Namenloses um diesen vielleicht Meistberufenen der Sterblichen“ – solche Sätze sind ein Ärgernis und garantieren epileptische Anfälle unter zeitgenössischen Proseminaristen, als würde man Weihwasser auf die Dämonischen spritzen. Sätze freilich in einer pathetischen Sprache, für die man schon ein gewisses Format besitzen muß, um sie in den Mund nehmen zu dürfen.

Sie rühren indessen an ein (häufig unbewußtes) Grundbedürfnis vieler, die sich zu einem geisteswissenschaftlichen Studium hingezogen fühlen und die nach einem Manna dürsten, das sich aus der „Analyse“ von „Texten“ nicht herausquetschen läßt. „Die Kunstwerke sind da“, schrieb Botho Strauß 1991. „Ihre Heterophanie ist unabweislich, unwandelbar. Verborgen, verhindert, verlegen ist allein der Empfänger, der Beschenkte, der Angesprochene. Er hat sich aus der Verantwortung gestohlen und in ein methodisches Drumherumreden geflüchtet.“

Diesen Bann zu brechen, bedarf es allerdings subtiler Werkzeuge und wohl auch geeigneter Geister, an denen sich Geschmack und Erkenntnis herausbilden und verfeinern lassen. Dabei gilt es zunächst, die Kunst als Kunst wieder ernst zu nehmen. „Sobald es eine strenge Wissenschaft der Kunst gibt, gibt es keine Kunst mehr“, schrieb Cysarz 1933. „Die Literarhistorie muß darum entweder den ästhetischen Charakter ihrer Gegenstände leugnen (in welchem Fall sie keine Wissenschaft der Dichtung bleibt) oder einen Teil des Charakters in sich aufnehmen (...). Die Literarhistorie wird wie die Literatur entweder von Handwerkern, Könnern oder von Müssern, Versuchern und Suchern gemacht.“

Cysarz, selbst musisch hochbegabt, war sowohl „Handwerker“ als auch „Müsser“, „Sucher“ und „Versucher“. Wer sich von Cysarz’ unzeitgemäßer, barocker Sprachgewalt nicht abschrecken läßt, wird in den in „Bild und Begriff“ zusammengestellten Schriften reich mit einem ungewohnten Gegenentwurf zur Germanistik der Gegenwart belohnt werden. Zugänglich und mitreißend sind insbesondere die „Dichterprofile“ im Zentrum des Bandes: Goethe, Hölderlin, Eichendorff, Jean Paul, Ferdi-nand Raimund, Stifter und der Dreiklang Nietzsche–Wagner–George.

Eingerahmt werden diese Porträts von theoretischen Grundlagentexten und literaturgeschichtlichen und -ästhetischen Überblicken, die eine Ahnung der Weite des Horizonts geben, in dem Cysarz dachte und arbeitete. Der Erfüllung des Wunsches des Herausgebers, „die Jugend wieder an die deutsche Dichtkunst heranzuführen“, wird man wohl pessimistisch gegenüberstehen müssen, und das liegt nicht nur am Ziegelsteinformat und am hohen Preis des Bandes.

Diese faszinierende Anthologie wird voraussichtlich nur wenigen gehören. Der Anfang zu einer längst fälligen Wiederentdeckung eines vielschichtigen Lebenswerkes voller liegengelassener Impulse ist jedenfalls gemacht.

Hans-Dietrich Sander (Hrsg.): Herbert Cysarz. Bild und Begriff. Germanistik im geisteswissenschaftlichen Feld. Lindenblatt Media Verlag, Fulda 2006, gebunden, 619 Seiten, 48 Euro

Foto: Herbert Cysarz (1896–1985): Weihwasser auf die Dämonischen

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