© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/08 30. Mai 2008

"Von der Leyen hat versagt"
Familien werden systematisch betrogen. Nun sollen sie auch noch ihr höchstes Gut geben: die Kinder
Moritz Schwarz

Herr Bergmann, zu "tumultartigen Szenen"  kam es am Sonntag auf dem Parteitag der Linken, als Lafontaines Ehefrau Christa Müller ihren Antrag zur Familienpolitik vorstellte.

Bergmann: Vielleicht hätten sich die Damen und Herren Delegierten einmal fragen sollen, wie es morgens wirklich in einer Kinderkrippe zugeht: Von wegen, daß dort glückliche, selbstverwirklichte Frauen lachende Kinder an ihre individuellen Erzieherinnen übergeben und dann entspannt ihrer Karriere nachgehen. Tatsächlich weinen die Kinder, und die Frauen haben feuchte Augen, während die Erzieherinnen selbst beim besten Willen mit fünf, sechs Kindern pro Kraft überlastet sind. Die Mütter trennen sich beklommen, meist nicht um Karriere zu machen, sondern um hinter der Kasse, Theke oder Büroschreibmaschine zu malochen.

Sie kennen Frau Müller persönlich.

Bergmann: Ja, und ihre familienpolitischen Vorschläge sind sehr vernünftig. Übrigens zielen sie keineswegs einseitig darauf, Krippen zu verhindern. Müller plädiert lediglich dafür, Eltern die Freiheit der Wahl zu lassen. Diese haben die meisten aber nur, wenn sie genug Unterstützung bekommen. 

Für Joachim Wagner, Moderator der ARD-Sondersendung zum Parteitag und Vize-Leiter des Hauptstadtstudios, war Christa Müllers Position einfach nur "altbacken".

Bergmann: Fragen Sie den Herrn doch mal, wie viele Buchseiten er je über Bindungsforschung und frühkindliche Erziehung gelesen hat. Mich würde nicht wundern, wenn es keine einzige wäre. Die meisten Journalisten wissen nichts. Sie schließen sich an die politische korrekte "Mehrheitsmeinung" an, treten noch ein bißchen nach und freuen sich, wenn der Chef sagt: "Gut gemacht!"

Nach der Abstimmungsniederlage für Müller kam es zur Verhöhnung und Demütigung der Unterlegenen. Ex-PDS-Vizechefin Petra Pau sah sich schließlich gezwungen, ans Mikrofon zu treten und das Treiben öffentlich zu verurteilen. Woher kommt dieser Haß?

Bergmann: Das frage ich mich auch. Denn das gleiche Phänomen haben wir ja schon bei Eva Herman erlebt. Ich bin davon auch nicht verschont geblieben: Es schlägt einem wirklich der blanke Haß entgegen. Vermutlich steckt dahinter eine tiefe Angst vor einer angeblichen Rückkehr zur Unterdrückung der Frau. Und bei vielen kommt auch schlicht der autoritäre Charakter zum Vorschein, der ja typisch für totalitäre Systeme ist. Denn es ist auffällig, daß alle totalitären Systeme ihre Hand gerne nach den Kindern ausstrecken und darauf achten, daß diese möglichst früh von der Familie getrennt werden. Wir wissen aus der Bindungsforschung, daß eine frühe Trennung dazu führt, daß Kinder unsicher werden und demzufolge später eine besondere emotionale Unselbständigkeit und Anlehnungsbedürftigkeit entwickeln, die sich diese Systeme zunutze machten. Zu Demokratien dagegen paßt das nicht, denn für ihre freiheitliche Ordnung stellt eine solche Mentalität ein Gefahrenpotential dar.

Das heißt, die Krise um das Kind, und mitunter die Krise der Freiheit, haben einen gemeinsamen Ursprung: die Krise der Familie?

Bergmann: Die moderne Familie, ganz anders als die Großfamilie früher, ist ein isoliertes, extrem fragiles Gebilde und existiert ohne einen stützenden sozialen Rahmen, wie er etwa früher auf dem Dorf oder im Kiez großer Städte gegeben war. Das so extrem auf sich selbst fixierte und allein gelassene Ehepaar ist zudem unerfüllbaren, medial angeheizten, Sehnsüchten ausgesetzt, denen gleichzeitig der Wunsch nach Treue und Liebe gegenübersteht. Dazu kommt eine hochindividualisierte Umwelt mit all ihren Ansprüchen und dominierenden Denkmustern. All diese Motive und Einflüsse werden nicht von einer großen Gemeinschaft aufgefangen, sondern belasten diese zerbrechliche Zweier-Konstruktion enorm. Das Kind, das da hineingeboren wird, wird nun zum neuen Zentrum. Mit ihm kommt erstmals ein anderes Motiv als Egoismus ins Spiel. Die Partnerschaft, die bisher nur aus dem Gedanken bestanden hat, "Was bietet mir diese Beziehung?", erhält nun ein neue Grundlage. Das war in der alten Großfamilie auf dem Dorf noch ganz anderes, da "liefen" die Kinder so nebenbei "mit". So aber ist heute das Kind einerseits eine Last, weil man wegen ihm soviel von seinem bisherigen egoistischen Leben entbehren muß - von der Freizeit bis zum Geld -, andererseits ist es das Liebeszentrum, das verhätschelt und verwöhnt und mit absurden Ansprüchen belastet wird, schon viel zu früh alles mögliche zu lernen. In Hessen gibt es etwa eine Gruppe von Zweieinhalbjährigen, die Chinesisch lernen, weil die Eltern meinen, China ist der Markt der Zukunft.

Sie sprechen in Ihren Büchern vom "Drama des modernen Kindes" und von der "Kunst der Elternliebe".

Bergmann: Ja, denn ungehemmtes Fördern der Kinder ist ebensowenig echte Elternliebe wie das dauernde Verwöhnen. Dazu kommt, daß viele Mütter die Botschaft der Emanzipation, ohne Beruf bin ich keine vollwertige Person, verinnerlicht haben. Dabei entgeht ihnen ebenso wie ihren Kindern viel von dem einzigartigen Glück, das in der ganz besonderen Mutter-Kind-Beziehung liegt und das später insgesamt in unserer Gesellschaft fehlt.

Die Publizisten Susanne und Marcus Mockler weisen in ihrem Buch "Familie, der unterschätzte Glücksfaktor" darauf hin, daß nur hier diese für die Gesellschaft unentbehrliche Ressource produziert wird.

Bergmann: Genauso ist es. Wer je ein Kind gehabt hat, weiß, daß sich das ganze Leben völlig verändert. Die Liebe, die man erlebt, dadurch daß das Kind zum wichtigsten für einen wird, das Vertrauen, das es einem entgegenbringt, und die Verantwortung, die man für es übernimmt, stellen einzigartige Gefühle und Erfahrungen dar, die man nirgendwo sonst in unserer Gesellschaft erlebt.

Sie werfen Bundesfamilienministerin von der Leyen vor, "versagt zu haben". Warum?

Bergmann: Weil es ist ihr nicht gelungen ist, diese zentralen Aspekte, die Bedürftigkeiten des Kindes und die besondere unersetzliche Bedeutung der Eltern, in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Statt dessen hat sie lediglich eine Debatte über äußerliche Aspekte wie Finanzierung und wirtschaftliche Notwendigkeiten begonnen.

Weshalb hat sie dies versäumt?

Bergmann: Ich glaube, sie ist dieser enormen seelischen entwicklungspsychologischen und gesamtkulturellen Komplexität des Themas nicht gewachsen. Allerdings kann man die Union nicht auf Frau von der Leyen reduzieren. Tatsächlich ist die CDU/CSU bei dem Thema keineswegs einheitlich. Ich habe diverse Vorträge in der Partei gehalten und erlebt, daß große Teile der Basis ganz anders denken. Und neben Frau von der Leyen gibt es in der Union auch Politiker, die ganz hervorragende, klar kinderfreundliche Positionen vertreten, wie etwa der thüringischen Familienminister Klaus Zeh.

Diese Fraktion setzt sich aber nicht durch.

Bergmann: Ja, aber ohne diese Fraktion wäre Frau von der Leyen noch viel radikaler.

In der Öffentlichkeit genießt Frau von der Leyen hohes Ansehen. Offensichtlich sind die Deutschen mit ihrer Familienpolitik zufrieden.

Bergmann: Die Leute folgen natürlich vor allem dem, was die medialen Meinungsführer vorbeten. Aber diese - ich wiederhole es - wissen meist einfach nicht Bescheid. Was ich hier sage, ist ja nicht meine persönliche Meinung, sondern Stand der Forschung. Die Menschen sehen in Frau von der Leyen nur diejenige, die ihnen ihr "Problem" Kind mit Krippenplätzen erleichtert. Sie bedenken nicht, daß nicht die Kinder, sondern die Art und Weise der Diskussion bei uns das Problem ist. Daß nämlich nicht das Kind und die - anstrengenden und trotzdem überwältigend schönen - Freuden der Elternschaft im Mittelpunkt stehen, sondern Kinder stets als Problem dargestellt werden, das man sich möglichst rasch vom Halse, sprich in die Krippe, schafft. Kein Wunder, wenn potentielle Eltern Kinder unterschwellig nur noch als Gefahr, Bedrohung und fast unlösbare Aufgabe empfinden. Unsere Gesellschaft ist unterschwellig kinderfeindlich. In dieser Atmosphäre muß die frühkindliche Krippe nicht als Übel, sondern als Erlösung erscheinen.

Als Ursache für diesen Zustand betrachten Sie den "Verlust an freiheitlicher Nationalkultur in Deutschland".

Bergmann: So ist es, denn in unserer Kultur sind Verstand und Moral eng verschwistert mit der Vernunftordnung des Staates. Das finden Sie schon bei Hegel. Für mich steht außer Frage, daß es bei der Krippendiskussion im Grunde darum geht, daß die Frauen möglichst schnell wieder dem ökonomischen Prozeß zugeführt werden sollen. Das ist auch für Ursula von der Leyen ein wesentliches Motiv. Natürlich ist das nachvollziehbar, ökonomische Zwänge sind objektive Probleme, aber mit dem Kindeswohl hat das nichts zu tun. Und auch die Quintessenz der linken Argumentation für Krippen zielt auf den ökonomischen Prozeß, weil die Linke, egal ob Sozialisten oder Sozialdemokraten, traditionell einen Begriff von Arbeit pflegt, der aus dem Protestantismus kommt - Stichwort Max Weber: Der Mensch verwirklicht sich nur durch seine Werke. Dahinter steckt, daß es bei uns keinen Begriff von Freiheit gibt, sondern nur von Dienen, Unterordnen und Funktionieren, weil es in Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich, nie eine erfolgreiche Freiheitsrevolution gab.

Aber genau im Namen der Freiheit, nämlich der Befreiung der Frau, argumentieren die Linken doch.

Bergmann: Das ist richtig, aber was ist das für eine Freiheit? Eine Freiheit, die nicht aus der Bindung, aus der Liebe und aus der Ordnung des Lebens entsteht, sondern aus der Erfüllung einer gesellschaftlichen Pflicht.

Gerade die Revolution ist ein linkes Projekt, und ihr Ziel ist die Zerstörung von Bindungen und natürlicher Ordnung zugunsten einer konstruierten Zukunft. Die Idee der Freiheit aus Bindung, aus der natürlichen Ordnung des Lebens heraus gehört dagegen zum Kanon der politischen Philosophie des Konservatismus.

Bergmann: Unter konservativ verstehe ich alles, was den Menschen unter gesellschaftlichen oder ökonomischen Primat stellt. Es ist aber richtig, der Begriff der Liebe kommt aus dem christlich-mystischen Denken, es ist der paulinische Liebesbegriff. Diesen halte ich nicht für genuin konservativ. Aber andererseits wehre mich auch nicht gegen das Wort "konservativ", denn es stimmt schon, daß die Idee, das Augenmerk auf den Einzelnen und auf seine Liebes- und Bindungsfähigkeit zu richten und vorwiegend daraus, aus seiner individuellen Besonderheit und seiner Bindungsfähigkeit, lebbare soziale Modelle zu entfalten, eine Idee ist, die seit der Aufklärung und in besonderer Weise seit der Romantik unser Denken prägt. Übrigens stammen aus diesem Zusammenhang auch die Ideen des 1782 geborenen Friedrich Wilhelm August Fröbel, des Vaters des Kindergartens. In diesem Sinne - und Fröbel war auch ein Konservativer - bin ich in der Tat konservativ, sogar romantisch-konservativ. Die deutsche Romantik hat neben manchen patrizentrischen Verschwiemelungen ein enormes Potential an Freiheitsdenken in die deutsche Kultur gebracht - um die uns andere Nationen, nicht zuletzt die Franzosen, beneiden -, jedenfalls sehr viel mehr als etwa der deutsche Idealismus mit seinem Staatsdenken.

Was kann getan werden, um die von Ihnen geschilderte Geisteshaltung unserer Gesellschaft zugunsten der Kinder zu ändern?

Bergmann: Sicherlich ist zum Beispiel eine Initiative wie das Familienetzwerk Deutschland "Familie ist Zukunft" eine sinnvolle Unternehmung. Nachdem es einen drohenden Fundamentalismus zu Beginn überwunden hat, ist es inzwischen auf politischer Ebene zu einem sehr wichtigen Faktor geworden, vermutlich - als Stimme der Kleinen - zum wichtigsten organisierten Faktor in Deutschland überhaupt und daher aller Unterstützung wert. Denn die Stärke von "Familie ist Zukunft" ist, daß es getragen wird von einer den Menschen oft gar nicht bewußten, aber in uns allen tief verankerten Bindung: die Liebe für Mutter und Vater, früh erworben, tief verankert und prägend bis ans Lebensende.

 

Wolfgang Bergmann Den "Advokat der Kinder" nennt ihn das Nachrichtenmagazin Focus. Der Buchautor und Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover ist bekannt aus Medienauftritten in Funk und Fernsehen, Gastbeiträgen in Zeit, Welt, Stern, Süddeutscher Zeitung und anderen Zeitungen und Zeitschriften sowie zahlreichen Buchveröffent­lichungen wie "Disziplin ohne Angst" (Beltz, 2007), "Das Drama des modernen Kindes" (Beltz, 2003) oder "Die Kunst der Elternliebe" (Beltz, 2005).

Der Familien- und Kindertherapeut (www.kinderpsychologie-bergmann.de), Jahrgang 1948, betreut außerdem diverse Periodika und war von 1990 bis 1995 Chefredakteur der Deutschen Lehrer Zeitung. Immer wieder wird er auch zu Anhörungen in den Deutschen Bundestag geladen.

 

Familiennetzwerk Deutschland: Unter dem Motto "Familie ist Zukunft" gründete der Verein Familie e.V. um die Kinderärztin Maria Steuer 2005 das Famlliennetzwerk Deutschland als Interessen- und Lobbyverband. Inzwischen vereinigt  das Familiennetzwerk etwa 45 Organisationen unter seinem Dach.

Kontakt und Informationen: Familien e.V., Hollernstr. 109, 21723 Hollern-Twielenfleth, Telefon: 0173 / 86 92 741, im Internet: www.familie-ist-zukunft.de

 

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