© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Laßt die Fahnen draußen!
Vor der EM: Selbstbewußter Patriotismus gehört nicht nur zu Sportereignissen, sondern in den Alltag
Michael Paulwitz

Schwarz-Rot-Gold ist wieder angesagt. Täglich mehr Autos im Flaggenschmuck, Fan-Zubehör in den Nationalfarben, das die Supermarkt-Sortimente dominiert - der Anpfiff für die Fußball-Europameisterschaft rückt unübersehbar näher, und die Deutschen rücken zusammen in der Hoffnung auf ein zweites "Sommermärchen". Und wer ein paar Wochen später die Olympischen Spiele am Bildschirm verfolgt, wird weniger um die Leistungen der einzelnen Athleten fiebern, sondern möchte wieder, diesmal im Medaillenspiegel, das eigene Land ganz oben sehen. Selten ist Patriotismus so positiv besetzt, ja geradezu erwünscht wie bei internationalen Sportwettkämpfen.

Natürlich werden sich bald genug wieder die Bedenkenträger zu Wort melden, denen die plötzliche Aufwallung nationaler Gefühle ohne jegliche ironische Brechung oder kritische Distanzierung unheimlich ist. Auch die Spötter, die sich an der kommerziellen Vollversorgung der Fußballbegeisterten mit allerlei schwarzrotgoldenen Artikeln und am vermeintlich oberflächlichen "Partyotismus" stören, werden sich wieder einfinden. Beides ist indes unangebracht. Denn patriotische Gefühle stehen nicht im Gegensatz zum Geist des internationalen Sportwettbewerbs, sie sind das Salz in der Suppe, das ihren besonderen Reiz erst ausmacht.

Die Bändigung instinktiver Impulse und Triebe im Ritual ist eine der Grundlagen aller Zivilisation. So gesehen ist das unblutige Sich-Messen der Nationen im friedlichen sportlichen Wettstreit eine zivilisatorische Meisterleistung des Abendlandes - noch dazu eine, die auf dem ganzen Erdball Schule gemacht hat.

Bereits in der griechischen Antike gehörte zu den Olympischen Spielen der Olympische Friede: Wenn die Athleten kämpften, schwiegen zwischen den Hellenen die Waffen. Auf dem Spielfeld und auf den Zuschauerrängen dürfen Stolz auf das eigene Land und patriotische Begeisterung für die Leistungen seiner Besten, aber auch nationale Antagonismen ausgelebt werden, ohne daß anderen Schaden entsteht. Da mögen einige Schlachtenbummler auch überholte Feind-Metaphern auspacken oder mit nationalen Klischees auf den Zuschauerrängen provozieren, ohne daß es wirklich jemandem wehtut.

Das Zeitalter der Globalisierung hat die nationalen Leidenschaften nicht obsolet gemacht, im Gegenteil. Selten lag Franz Beckenbauer so falsch wie vor zehn Jahren, als er das baldige Verschwinden der Nationalmannschaften und die Verdrängung der Länderspiele durch eine Europa- oder gar Weltliga der Spitzenclubs herbeireden wollte. Als gäbe letztlich nur den Ausschlag, womit sich das meiste Geld verdienen läßt. Die Fußball-Geschäftsleute haben die Kraft der gewachsenen Bindungen unterschätzt: Die gemeinschaftsstiftende Identifikation ganzer Völker mit "ihrer" Nationalmannschaft ist so real wie die Existenz der Nationen und Nationalstaaten selbst, die auch im 21. Jahrhundert der gültige Ordnungs- und Identitätsrahmen für das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten bleiben werden.

Gewiß: Wo das Gemeinschaftserlebnis die Alltagssorgen für eine Weile vergessen macht, bleiben profane Interessen nicht aus, die aus dem kollektiven Hochgefühl ihren Nutzen ziehen wollen. Kommerziellen natürlich vorneweg; Sponsoring kannten schließlich schon die alten Griechen, wenngleich sie sich die Dimensionen, in denen Uefa und IOC heute mit Milliarden jonglieren, sicher nicht hätten vorstellen können.

Erst recht wollen Politiker gern etwas vom Glanze abhaben, wenn die Völker in bester Stimmung vereint sind. Der Austragungsort internationaler Sportwettbewerbe ist immer ein Politikum; kein Staat, der nicht aus seiner Gastgeberrolle für das eigene nationale Interesse Vorteil schlagen wollte. Und gibt er sich dabei allzu große Blößen, ist schnell ein neidischer Konkurrent mit Boykottdrohungen bei der Hand.

Fußballverächter zu sein, kann kein Politiker sich leisten, wenn Europa- oder Weltmeisterschaften die Nachrichten dominieren. Tapfer sitzen sie auf den Tribünen, und selbst wenn das Geschehen auf dem Platz ihnen nicht wirklich etwas sagt, können sie sich der gemeinschaftlichen Begeisterung nicht entziehen: Sie springen auf, schreien und jubeln mit, um dem von ihnen regierten Volk einmal so nahe zu sein, wie sie es im grauen politischen Alltag wohl niemals fertigbrächten.

Die Bundeskanzlerin hat zwar wohl nie wie Amtsvorgänger "Acker" Schröder im Verein gebolzt, aber sie ist rationale Analytikerin genug, um bei der WM vor zwei Jahren gelernt zu haben, wie man sich ein Scheibchen vom Beifall der Nation für ihre Helden abschneidet. So findet sie denn nicht erst nach wichtigen Meisterschaftsspielen, sondern sogar schon nach dem letzten EM-Testspiel den Weg in die Kabine der Nationalmannschaft.

Vielleicht nimmt sie diesmal ja etwas von ihren Erfahrungen im Stadion mit nach draußen und stellt sich nach dem Abpfiff die richtigen Fragen: Warum eigentlich gestattet die politische Klasse sich - und uns - unbefangenen Patriotismus und Deutschland-Begeisterung ohne düster-depressive Selbstzweifel nur im seltenen Ausnahmezustand sportlicher Großereignisse? Warum sieht man unseren ehrwürdigen urdemokratischen Dreifarb nicht ganz selbstverständlich und viel öfter im täglichen Leben, zum Beispiel in jedem Klassenzimmer? Warum lernt man dort nicht die Nationalhymne und probiert es mal mit der integrierenden Kraft des Nationalstolzes, so wie andere westliche Demokratien auch? Warum all die verklemmten Kampagnen "gegen rechts" und "gegen Rassismus", als dürfte man nicht stolz auf sein Land und seine Nationalmannschaft sein, ohne gleichzeitig demonstrativ sein schlechtes Gewissen zu markieren?

Mehr Selbstbewußtsein und mehr Gemeinschaftssinn können diesem Land nur guttun. Deshalb: Laßt die Fahnen draußen nach dieser EM - wir brauchen uns ihrer auch ohne Fußball nicht zu schämen.

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