© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Kampfprosa mit Fußnoten
Intellektueller Sündenfall: Der JF-Kritiker Wolfgang Gessenharter macht dem Geist der BRD alle Ehre
Doris Neujahr

 An wissenschaftlichen Kriterien gemessen, ist der 2007 emeritierte Hamburger Politikprofessor Wolfgang Gessenharter unerheblich. Seine Defizite kompensiert er durch die Nähe zu mächtigen Institutionen, zur Presse etwa oder zum Verfassungsschutz. Für öffentliche Jagdrituale liefert er Stichworte und Zielvorgaben. Er gehört zu den modernen Fließbandproduzenten des Geistes, die Julien Benda im "Verrat der Intellektuellen" und - für die kommunistischen Regimes - Czeslaw Milosz im "Verführten Denken" beschrieben hat. In dieser Eigenschaft: als Repräsentant des intellektuellen Sündenfalls, hat er Anspruch auf das Interesse dieser Zeitung.

Gessenharter ist der Erfinder der "Scharnierfunktion" zwischen Konservativen und Rechtsextremismus bzw. "Nazis", welche in seinen Augen auch die JUNGE FREIHEIT wahrnimmt. Im "Netz gegen Nazis" der Zeit fungiert er als wissenschaftlicher Kronzeuge. Gönnerhaft bescheinigt er dieser Zeitung, an ihr sei "nichts Rechtsextremes (zu) erkennen", doch deckten diese Kriterien "längst nicht alles ab, was für einen liberalen Konservativen eigentlich unakzeptabel sein müßte. Denn sie verehrt und propagiert nach wie vor die politische Weltanschauung der Konservativen Revolution, insbesondere eines Carl Schmitt, für den das Grundgesetz die gefährliche Lebenslüge einer waschlappigen deutschen Gesellschaft ist. Für den mithin die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen, wie sie im Art. 1 des Grundgesetzes als zentrale Aufgabe Staat und Gesellschaft auferlegt sind, bestenfalls als Floskeln gelten dürfen."

Daraus folgert Gessenharter: "Solange die JF nicht den radikalen Bruch mit dieser neurechten Weltanschauung vollzieht, die sie seit ihrem ersten Erscheinen stolz und unerbittlich vor sich herträgt, muß jeder, der sich mit dieser Zeitung gemein macht, wissen, daß er damit einer gefährlichen Relativierung des Grundgesetzes Vorschub leistet. Nicht nur durch die direkten Attacken der Nazis, sondern auch an der Relativierung der ersten deutschen Demokratie, insbesondere durch die konservativen Eliten, ist die Weimarer Republik zugrunde gegangen." Bemerkenswert: Nach dem Gedankenverbrechen der Holocaust- wird jetzt das der Demokratie- und Grundgesetz-Relativierung eingeführt!

Nun denn: Das Grundgesetz ist in der Tat für denjenigen relativ, dem die Rechtsqualität der Verfassung und das leidliche Funktionieren der rechtlichen und staatlichen Institutionen genügt. Wenn diese schlecht oder gar nicht funktionieren, kritisiert er sie und geht bei der Suche nach den Gründen bis an die Wurzel (radikal!) und bis zum äußersten (extrem!). Wenn Gessenharter sich davon alarmiert fühlt, dann deswegen: Er gehört zu der BRD-Spezies, die der Staatsrechtler Josef Isensee "deutsche Verfassungschristen" nennt. Diese haben zum Grundgesetz kein nüchtern-pragmatisches Verhältnis, sondern es ist ihnen ein Gegenstand der Ekstase und ein Anlaß zu stetiger Anstrengung mit dem (uneinholbaren) Ziel der Vollendung. Sie sind von einer vagabundierenden Religiosität erfüllt, die sich im Grundgesetz ihre säkulare Heimstätte gesucht hat. Im Mittelalter wären sie glatt bei der Inquisition gelandet. Ihr eschatologischer Furor, der natürlich stets unerfüllt bleibt, treibt sie dazu, immer neue Scheindemokraten, freiheitsfeindliche Herätiker, Verfassungsfeinde bzw. -relativierer zu entlarven. Das Grundgesetz ist ihnen, so Isensee, kein "rechtspraktischer Zweck", sondern ein "selbstzweckhaftes Symbol", an dem sie - das wäre hinzuzufügen - ihre eigene Person, ihren Lebenszweck, ihre Karriere aufrichten. "Waschlappig" sollte man diese Personen nicht nennen, sie sind aggressiv, gefährlich, aber auch erbarmungswürdig, leben sie doch in geistig-kultureller Armut, in einem Vakuum, das sie mit Verfassungstranszendenz aufzufüllen versuchen. Zu dem "Fundus überkommener Selbstverständlichkeiten" (Isensee), also dem Bestand aus verhaltenssteuernden Mythen und Werten, aus dem andere Verfassungsnationen ihr Identifikationspotential schöpfen und das der Diskussion entzogen bleibt, versperrt ihnen das übermächtige NS-Feindbild den Zugang.

Nun trägt Gessenharter immerhin einen Professorentitel, der seinen Äußerungen in der Öffentlichkeit Gewicht verleiht. Es ist freilich nicht ganz klar, worauf seine Kompetenz und Weihen überhaupt beruhen. Er wurde 1973, mit 31 Jahren, zum Professor für Politische Wissenschaften an der gerade neueröffneten Bundeshochwehrschule in Hamburg berufen. Diese Hochschule war eine Idee der sozial-liberalen Koalition, die sich gegen die alte Ordinarienuniversität richtete. 1978 erkannte Gessenharter den "Rechtsextremismus als normativ-praktisches Forschungsproblem".

Die Publikationslisten, die er selber zusammengestellt hat, bestehen fast ausschließlich aus einschlägigen Titeln wie zum Beispiel: "Kippt die Republik? Die Neue Rechte und ihre Unterstützung durch Politik und Medien" aus dem Jahr 1994. Es handelt sich um politische Kampfprosa mit Fußnoten. Der Titel macht zweierlei deutlich: Erstens besitzt der Autor klare politische Prioritäten, zweitens ist er außerstande, diese wissenschaftlich zu objektivieren.

In dem von Stephan Braun und Ute Vogt herausgegebenen Anti-JF-Buch (JF 17/08) schiebt er Gedankengänge des Philosophen Panajotis Kondylis fälschlicherweise dem Staatsrechtler Carl Schmitt unter, denn der gibt ein besseres Feindbild ab. Bei der Lektüre seiner Texte fühlt man sich in das Seminar "Wissenschaftlicher Kommunismus" versetzt, das zum Pflichtprogramm der DDR-Universitäten gehörte. Dabei handelte es sich um keine marxistische Philosophie, sondern um die aus einem verengten Philosophieverständnis abgeleitete Theorie "der sozialpolitischen Gesetzmäßigkeiten der Entstehung und Entwicklung der kommunistischen Gesellschaftsformation", und zwar als "Anleitung zum praktischen revolutionären Kampf". (Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie", Ost-Berlin 1984)

Nur existierten diese Gesetzmäßigkeiten überhaupt nicht, es handelte sich um eine von der Staatsmacht gestützte, pseudowissenschaftliche Anmaßung. Nach 1989 wurde das entsprechende Schriftgut massenhaft auf den Müll gekippt. Auch Gessenharters Reputation ist abhängig von den gegenwärtigen Kräfte- und Machtverhältnissen, die er verständlicherweise beibehalten möchte.

Ein Wort zur "Menschenwürde", welche diese Zeitung angeblich in Frage stellt. Irgendwelche Äußerungen über höher- und minderwertige Nationen, Rassen, Völker wird man hier nicht finden, und darüber, daß jeder Mensch aufgrund seiner bloßen Existenz einen schützenswerten Eigenwert besitzt, besteht Einigkeit sogar mit Gessenharter. Daraus aber universelle "Menschenrechte" abzuleiten, impliziert die Unterstellung, daß allen Individuen schon kraft ihres Menschseins weltweit an jedem Ort ihrer Wahl dieselben Rechte zustehen, was im übrigen "die Menschheit als konstituiertes und einheitliches Subjekt" voraussetzt (Kondylis). Das wäre das Ende der gegenwärtigen Staatlichkeit.

Es wäre auch interessant zu wissen, wie viele Millionen menschlicher Würden ausländischer Provenienz sich nach Gessenharters Meinung denn noch innerhalb des deutschen Staates - vor allem im Sozialsystem - verwirklichen dürfen? Und warum nicht gleich die doppelte oder dreifache Anzahl, da die Ausgeschlossenen doch an der Verwirklichung gehindert, mithin entwürdigt würden? Und ab wann schlägt die Steuerfron von Millionen deutscher Kleinverdiener, denen fünfzig Prozent ihres Bruttolohns abgezwackt werden, unter anderem, um den ideologischen Lusttraum Gessenharters zu finanzieren, als Würdeverlust zu Buche? Man sieht, die Exklusivität der Staatsbürgerrechte, die diese Zeitung vertritt, ist eine höchst vernünftige Angelegenheit.

Das Niveaugefälle Gessenharters gegenüber Fachkollegen wie Eckhard Jesse oder gar Wilhelm Hennies ist evident, nichtsdestotrotz ist er ein typischer Vertreter seines Fachs. Dieses wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in den deutschen Universitätsbetrieb eingeführt. Es handelte sich um ein alliiertes, vor allem ein amerikanisches Projekt, wobei auch an Traditionen aus der Weimarer Republik angeknüpft werden konnte.

Nun hätte die spezielle Interessenlage Deutschlands als besiegtes, geteiltes Land und schwerbeschädigte Heimstatt der Deutschen viel Stoff für dieses Fach bieten können, doch auf den entscheidenden Tagungen von Waldleiningen im September 1949 und Königstein im Juli 1950, an denen neben Wissenschaftlern und Politikern auch Vertreter der Alliierten teilnahmen, wurden die Weichen dafür gestellt, daß die Politologie sich zu keiner forschenden Wissenschaft entwickelte, sondern daß sie sich auf Handreichungen für die politische Bildung und die Angleichung Westdeutschlands an ein angelsächsisches Demokratieverständnis beschränkte.

Zwar erkannte der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger (1907-1989) die Gefahr, daß dabei nichts anderes herauskäme "als nur eine demokratische Schulung oder eine demokratische Weltanschauungsprüfung", doch verhinderten solche Warnungen nicht, daß die Politologie sich als eine Normwissenschaft etablierte, die von Ort, Zeit, Interessenlagen absieht - als Lehre von der "einen Welt" und "den Ordnungen der Menschheit schlechthin", wie das der hessische Kultusminister Erwin Stein (CDU) damals verlangte.

So verwundert es auch nicht, daß sie die deutsche Wiedervereinigung weder antizipiert hat noch zu ihren Modalitäten etwas mitzuteilen wußte. Und wenn sich Gessenharter heute empört darüber zeigt, daß die JUNGE FREIHEIT auf Ordnungen unterhalb der Menschheit beharrt, also "nicht allen Menschen die gleichen Rechte (...) unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse oder Herkunft" in Deutschland zuspricht (Interview in der taz vom 26. April), dann führt er nur die politisch gewollte, wissenschaftswidrige Gründungstradition seines Faches fort - das aber in radikaler bis extremer Weise!

Abbildung: Wolfgang Gessenharter: Ein typischer Fachvertreter

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen