© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Spurensuche in einer Literaturprovinz
Ein Sammelband widmet sich Pommern, dem "verschwiegenen Land" zwischen Rügen und Lebasee
Jochen Stenzel

Schwarzes Loch oder weißer Fleck? In welchem Bild das Phänomen zu spiegeln ist, scheint gleichgültig, denn fest steht nun einmal, daß Pommern auf der Landkarte der deutschen Literaturgeschichte fast konturenlos ist. "Pomerania non cantat"?

Dies zu überprüfen, rief die Heidelberger Altgermanistin Roswitha Wisniewski Kollegen zu einer Tagung zusammen. Kann ihr Heimatland nicht doch als Literaturprovinz gelten, wenn auch als eine eher "verschwiegene"? Fünf Jahre mußte sich gedulden, wer die Resultate germanistischer Spurensuche auch gedruckt in Händen halten wollte. Als achter Band der von Frank Lothar Kroll im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen herausgegebenen Reihe "Literarische Landschaften" liegt nun also "Pommern" vor.

Wiesniewskis literarhistorischer Rundflug startet bei den Heldensagen und Zeugnissen erster Missionsreisen im Umfeld deutscher "Ostsiedlung", streift religiöse Dichtung und historiographische Bemühungen während der Reformationszeit und bringt barocke Gelehrtenlyrik schnell hinter sich, um fürs 18. Jahrhundert mit Ewald Christian von Kleist, Hermes und Ramler halbwegs Bekannte zu präsentieren. Mit Ernst Moritz Arndt (1769-1860) tritt dann bei ihr der einzige Pommer hervor, dessen Publizistik und Lyrik im 19. Jahrhundert über das provinzielle Maß hinausragte. Sonst konzentriert sich viel auf Naturlyrik und Reisebeschreibung im Licht der "Rügen-Romantik", später ist es die "vaterländische" Akzentuierung historischer Stoffe, mit der Autoren wie der Stettiner Hans Hoffmann (1848-1909) achtbare Publikumserfolge erzielen. Für das 20. Jahrhundert weiß Wisniewski vor 1945 Döblin, Fallada und Ehm Welk ("Die Heiden von Kummerow"), danach natürlich Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Hans-Jürgen Heise und Christian Graf von Krockow zu nennen, der mit seinen auflagenstarken Erinnerungsbüchern an die archaisch-agrarische Gutswelt Hinterpommerns - trotz teilweise peinlichster politischer Korrektheit - doch viel dafür getan hat, diesen 1945 von Polen annektierten Teil Deutschlands nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Soviel scheint dank Wiesniewskis Musterung indes gewiß: Wer sich mit pommerscher Literaturgeschichte befassen möchte, hat es durchweg mit Kleinmeistern, mit Gebrauchs- und Gelegenheitsdichtung zu tun, egal ob es sich um barocke Hochzeitspoeme oder wilhelminische Heimatromane handelt. Es ist daher auch wenig sinnvoll, nach Prominenz auszuschauen, um im nachhinein die flache Ostseeprovinz mit einem literarischen Höhenkamm zu beglücken. Darum wirken Karol Sauerlands Reflexionen über den "Stettiner" Alfred Döblin eher verkrampft. Stettin war für die aus Posener Judentum stammende Familie nur "Zwischenstation" auf dem Weg nach Berlin, wo der Autor von "Berlin Alexanderplatz" seit 1888 aufwuchs. Auch der dank Marcel Reich-Ranickis unermüdlicher Propaganda wohl reichlich überschätzte Wolfgang Koeppen, dem Wiesniewski hier noch eine gesonderte Studie widmet, wurde in Greifswald nur geboren, wuchs in Masuren auf und läßt in seinen Werken kaum Raum für sein Geburtsland, so daß dieser Träger des Pommerschen Kulturpreises (1986) nicht auf Biegen und Brechen zur Galionsfigur der Literaturregion erhoben werden sollte.

Da ist man bei dem Grafen Krockow, über den Elke Mehnert eine etwas zu zitatenfrohe, zu wenig analytische Untersuchung beisteuert, schon besser aufgehoben - und bei den zahlreichen Autoren, unter ihnen auffallend viele Frauen, die "Flucht und Vertreibung" seit den frühen Fünfzigern thematisierten.

Leider bleibt der westdeutsche Anteil exemplarisch auf Krockow beschränkt, während Jörg B. Bilke die "unerwünschten Erinnerungen" in Mitteldeutschland sondiert. Das SED-Regime tat alles, um die deutsche Geschichte und Kultur der "volkspolnischen" Gebiete jenseits von Oder und Neiße zu unterdrücken. Mit Erstaunen liest man dann allerdings, daß ein Wilhelm Pieck sich im Sommer 1945 über die polnische Besetzung der westlich der Oder gelegenen Hafenstadt Stettin empörte. Noch 1981 schien für Honecker und Genossen der polnische Besitz nicht so gesichert, daß man im Rahmen einer "Prager Lösung" beim Solidarność -beunruhigten Nachbarn zugunsten der DDR nicht Grenzkorrekturen in Pommern und Schlesien erwog. Im letzten Jahrzehnt vor dem Mauerfall registriert Bilke äußerst zaghafte literarische Aufweichungen des Tabus "deutsche Ostgebiete", wenn auch die offizielle Geschichtsklitterung vom "urpolnischen Land" weiter in Bildbänden, Reiseführern und Lexika bis zuletzt aufrechterhalten und dann sogar bundesdeutsch tradiert wurde.

Zu den Kleinmeistern, auf die sich eine künftige, möglichst stark landesgeschichtlich ausgerichtete, also politische, soziale und ökonomische Verhältnisse einbeziehende Literaturhistorie konzentrieren müßte, zählen "Gelegenheitsschrifttum" in großen Mengen produzierende Autoren der Frühen Neuzeit. Ihnen gilt ein Aufsatz von Monika Schneikart, der zugleich die erheblichen Forschungsdesiderate nicht nur auf Pommerns Terrain offenbart. Angesichts solcher Aufgaben ist nicht ganz verständlich, was Kyra T. Inachins Reflexion über "Grenzverlauf und Grenzwahrnehmung vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg" hier zu suchen hat. Denn die "Grenzwahrnehmung" pommerscher Autoren, etwa während der Wiedervereinigung des schwedischen Vor- mit dem preußischen Hinterpommern 1815, bleibt bei Inachin außen vor. Statt dessen wird wieder die am Greifswalder landeskundlichen Lehrstuhl von Werner Buchholz nur zu gern gestreute These von der "Unbestimmtheit", von der instabilen "regionalen Identität" und vom "konstruktiven" Charakter der Provinz bekräftigt, um so die polnische Vereinnahmung Hinterpommerns als Konsequenz solcher vorgeblichen Geneigtheit zum Zerfall erscheinen zu lassen.

Anstelle solcher geschichtspolitisch durchsichtigen Bemühungen halte man sich lieber an Regina Hartmanns Detailstudie, die anhand von Karl Nernsts "Wanderungen durch Rügen" (1800) "Schwedisch-Pommern im Spannungsfeld zwischen deutscher und schwedischer Identität" beschreibt, oder an die leider etwas referierender ausgefallene Abhandlung Burkhard Bittrichs über "Rügen im Leben und Werk Ernst Moritz Arndts", der seine "Insel der Heimath" als ländlich-idyllischen Glücksraum imaginiert. Nur solche Mikroanalysen weisen die Richtung und vermögen, kultur-, wissenschafts- und bildungshistorisch gut wattiert, die "schwarzen Löcher" auszuleuchten, die "weißen Flecken" pommerscher Literaturgeschichte in Meßtischblätter zu verwandeln.

Roswitha Wisniewski (Hrsg.): Pommern. Literatur eines verschwiegenen Landes. Duncker & Humblot, Berlin 2007, broschiert, 197 Seiten, 34 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen