© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Die Farbe der Republik
Geschichtspolitik: Der 17. Juni und die überfällige Aussöhnung der deutschen Linken mit der Nation
Michael Paulwitz

Der 17. Juni 1953 war weder der erste noch der letzte große deutsche Freiheitstag. Er steht in einer Reihe mit den Freiheitskriegen gegen die napoleonische Fremdherrschaft, mit dem Wartburgfest und dem Hambacher Fest, mit der Eröffnung des Paulskirchen-Parlaments von 1848, den Republik-Gründungen von 1919 und 1949 und mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. In diesen Daten konzentriert sich eine in zwei Jahrhunderten gewachsene republikanische Tradition, auf die jeder Deutsche ohne Zögern und Bedenken stolz sein darf.

All diese Meilensteine unserer Geschichte sind untrennbar mit den deutschen Freiheitsfarben verbunden: Schwarz-Rot-Gold. Es war der unbestrittene Höhepunkt der Volkserhebung des 17. Juni 1953 gegen die kommunistische Unterdrückung, als zwei Männer das Brandenburger Tor erstiegen, die rote Fahne der Besatzungsmacht herunterrissen und dafür die schwarzrotgoldene hißten. Das Signal war deutlich: Uns geht es nicht bloß um materielle Verbesserungen am Status quo, um "soziale Gerechtigkeit", wenn man so will, wir kämpfen und riskieren den Tod für die Einheit und Freiheit der Nation.

Das war eine revolutionäre Tat in bester Tradition. Die republikanische Nationalstaatsidee war schon bei ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert ein progressives Projekt. Wann immer der schwarzrotgoldene Dreifarb wehte, den die Burschenschafter als akademische Avantgarde der republikanischen Freiheitsbewegung wohl aus den Uniformfarben des vor allem von Studenten gebildeten Freiwilligenverbandes der Lützower Jäger in den Kriegen gegen Napoleon abgeleitet hatte, wurde er von den überkommenen Eliten der Restaurationszeit als Herausforderung betrachtet - beim ersten öffentlichen Zeigen auf der Wartburg 1817 ebenso wie auf Hambach 1832 und über der Paulskirche 1848. Der Gedanke einer einigen und freien Republik der Deutschen, in der jeder Bürger gleiche und verbriefte Grundrechte haben sollte, war für die etablierten Oligarchien eine ungeheuerliche Provokation.

Die Frontstellung wirkte noch im Flaggenstreit nach, der die Anfänge der Weimarer Republik belastete. Es kostete die sozialdemokratischen Väter dieser aus der Not geborenen Republik viel Herzblut, gegen konservativen und monarchistischen Widerstand die schwarzrotgoldenen republikanischen Farben auch als Staatsflagge durchzusetzen. Als totalitäre Bewegungen von links und rechts mit ihren paramilitärischen Verbänden die Republik in die Zange nahmen, sammelten sich Sozialdemokraten und Freiheitliche zu ihrer Verteidigung unter dem "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold".

Entlang dieser Linien ließe sich ein modernes, an positiven Traditionen ausgerichtetes deutsches Geschichtsbild für das 21. Jahrhundert entwickeln, das quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Lager nationale Identität und Selbstbewußtsein begründen könnte, ohne Brüche zu verschweigen.

Es hätte durchaus die historische Mission der deutschen Liberalen und Sozialdemokraten werden können, aus ihrem geistigen Erbe heraus ein solches, die Nation einigendes Leitbild zu begründen. Daß dies nicht geschehen ist, daß im Gegenteil die politisch, gesellschaftlich und medial tonangebenden Kreise unseres Landes in stillschweigender Übereinkunft eine unwürdige, ignorante und blamable Geringschätzung der Nation und ihrer Farben pflegen, markiert ein epochales Versagen der deutschen Linken.

Gemeint sind hier wohlgemerkt nicht Ulbrichts Erben, die es "zum Kotzen" finden, wenn landauf, landab gutgelaunte Menschen ihrer Fußballbegeisterung mit ebenjener Fahne Ausdruck verleihen, in deren Zeichen vor 55 Jahren die Diktatur ihrer Partei beinahe vom Volk hinweggefegt worden wäre. Gemeint sind auch nicht grüne Nachwuchspolitiker, die es für einen internationalistischen Beitrag zur Weltverbesserung halten, wenn sie auf die deutsche Nationalflagge urinieren (Bild oben und Bericht auf Seite 5). In ihrer gedankenlosen Nations- und Staatsverachtung ist ihnen vermutlich nicht einmal bewußt, daß sie ein Symbol schänden, das in seiner Geschichte stets für Fortschritt und Freiheit stand.

Derartige Exzesse sind eine Spätfolge des historischen Versagens der deutschen Sozialdemokratie, die generationenlang darum gekämpft hatte, den Ruch der "vaterlandslosen Gesellen" loszuwerden. In den ersten Jahren der Bundesrepublik konnte die SPD geradezu als patriotische Alternative zur auf die Westbindung fixierten Union gelten. Der 17. Juni hätte ihr Tag werden müssen, ein Tag der Aussöhnung der deutschen Arbeiterbewegung mit der Nation: Was als Arbeiteraufstand begann, mündete in den republikanischen Ruf nach freien Wahlen unter den schwarzrotgoldenen Farben der bürgerlich-demokratischen Freiheitsbewegung. Doch weder Sozialdemokraten noch Gewerkschaften brachten es fertig, den 17. Juni zum Fundament ihres Selbstverständnisses zu machen. Inzwischen hat die deutsche Arbeiterbewegung sowohl die Deutschen als auch die Arbeiter aus dem Gedächtnis verloren. Die Verdi-Funktionäre, die in diesem Jahr für den 17. Juni zum "Arbeiteraufstand" aufrufen, als wäre es damals nur um Mindestlöhne gegangen, stehen beispielhaft für dieses geistige Elend.

Die Sozialdemokratie, deren patriotisch gesinnte große Führungsgestalten, von Friedrich Ebert über Kurt Schumacher bis, ja, Willy Brandt, heutzutage wohl von ideologisch bornierten Juso-Kommissaren mit Ausschluß- und Unvereinbarkeitsbeschlüssen malträtiert würden, überließ den Tag hilflos der Union. Dabei sollte es den Sozialdemokraten kein Trost sein, daß das immer noch so bezeichnete "bürgerliche" Lager inzwischen selbst die Nation auf dem Weg nach Europa verloren hat. Die überfällige Aussöhnung mit der nationalen Frage, die Erkenntnis, daß Demokratie, Patriotismus, Sozial- und Nationalstaat keine Widersprüche sind, sondern einander bedingen, könnte der orientierungslos gewordenen Sozialdemokratie wieder Halt und Richtung geben.

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