© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Ingenieurlücke made in Germany
Bildungspolitik: Stärkung des technisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Schulen ist unabdingbar
Fabian Schmidt-Ahmad

Es gab eine Zeit, da genoß er nicht nur in Deutschland einen Status geradezu kultischer Verehrung - der deutsche Diplom-Ingenieur. Ob Wirtschaftswunder oder Gründerzeit, alles war auch ein Stück sein Werk. Betagte Limousinen "made in Germany" im Orient, die noch heute ihren Dienst versehen, uralte Maschinen aus Kolonialzeiten, die immer noch rüstig ihren Beitrag zur Entwicklungshilfe beitragen: Ohne ihn wären sie nicht denkbar.

Doch seit geraumer Zeit scheint dieser akademische Beruf, der 1899 durch Erlaß von Kaiser Wilhelm II. an den Technischen Hochschulen etabliert wurde, vielen Jugendlichen nicht mehr erstrebenswert. Auch der sogenannte Bologna-Prozeß, der aus dem "Dipl.-Ing." den anglophilen Bachelor of Engineering oder den Master of Engineering (M. Eng.) macht, hilft da nicht weiter.

Den dramatischen Umfang dieser "Ingenieurlücke" macht nun eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) deutlich, die in Kooperation mit dem Verein Deutscher Ingenieure erstellt wurde.

Obwohl in Deutschland jedes Jahr mehr Absolventen die Hochschulen und Universitäten verlassen, ist die Zahl der Ingenieure zwischen 1996 und 2006 von über 50.000 auf weniger als 40.000 gesunken: "Während insbesondere rechts-, sozial- und geisteswissenschaftliche Studienfächer einen deutlichen Aufschwung erfahren haben, ist der Anteil der Ingenieure an allen Absolventen kontinuierlich von 23,6 auf 15,4 Prozent zurückgegangen", heißt es in der IW-Studie.

Die Folgen für die Wirtschaft sind dramatisch: Schon für das Jahr 2004 stellte die OECD fest, daß in Deutschland noch nicht einmal die altersbedingt aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Ingenieure mengenmäßig ersetzt werden konnten. Im internationalen Vergleich ein nahezu singuläres Phänomen.

Deutsche Ingenieure sind heute so gefragt wie nie

Weniger als 25.000 Ingenieure standen im Jahr 2007 dem Arbeitsmarkt zur Verfügung - und damit nach Schätzung des IW rund 70.000 zu wenig -, eine Vergrößerung der "Ingenieurlücke" zum Vorjahr um 44 Prozent. Die Auswirkung auf die Wirtschaft zeichnete das IW nun in einer Untersuchung von 2.700 repräsentativ ausgewählten Unternehmen nach. Jedes dritte Unternehmen gab an, in letzter Zeit eine Stelle aufgrund des Bewerbermangels nicht besetzt zu haben. In etwa gleicher Größenordnung wurden Stellen erst verspätet besetzt oder mußten Abstriche an der Qualifikation des Bewerbers in Kauf genommen werden.

Dabei gaben fast 60 Prozent einen steigenden und immer noch fast 40 Prozent einen gleichbleibenden Bedarf an Ingenieuren an. Lediglich 2,4 Prozent gingen dagegen von einem sinkenden Ingenieur-Bedarf aus. Auch der "Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2007" kommt zu dem Ergebnis, daß jedes Jahr 12.000 Ingenieure zuwenig ausgebildet werden, immerhin ein Drittel jeden Jahrgangs.

Im Erhebungszeitraum dieser Studie (Februar und März 2007) gaben beispielsweise über 40 Prozent der Unternehmen aus Elektroindustrie und Fahrzeugbau an, aktuell über eine offene Stelle zu verfügen. Dabei werden auffallend wenige Ausschreibungen überhaupt erst der Bundesagentur für Arbeit gemeldet. Nur etwa jede siebte bis achte freie Stelle - bei größeren Unternehmen sogar nur jede fünfundzwanzigste - wurde dort erfaßt.

Von dieser Entwicklung profitieren die fertig ausgebildeten Ingenieure. Ein Ingenieur erzielt derzeit ein durchschnittliches Einkommen, welches um über ein Viertel höher liegt als das seiner ehemaligen Kommilitonen aus anderen Fachrichtungen in vergleichbarer Anstellung. Noch vor zehn Jahren waren dies lediglich 3,6 Prozent. Die Altersgruppe der Arbeitslosen über 50 - sonst mit dem Prädikat "schwer vermittelbar" versehen - schrumpft zusehends, inzwischen auf ein Viertel des Wertes von 1999.

Für die Wirtschaft dagegen ergeben sich erhebliche Wertschöpfungsverluste. Ein Drittel aller Unternehmen gab an, Aufträge aufgrund Personalmangels verspätet bearbeitet zu haben. Immerhin 12,6 Prozent mußten sogar schon Projekte ablehnen, bei Unternehmen mit Rekrutierungsproblemen über ein Viertel. "Als unmittelbare Konsequenz" schätzt das IW eine entgangene Wertschöpfung "in Höhe von mindestens 7,2 Milliarden Euro".

Entsprechend laut sind die Rufe nach Reformen. Interessanterweise sahen über 70 Prozent der Befragten die "Stärkung des technisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Schulen" als höchste Dringlichkeit an, gefolgt von der Forderung nach einer verbesserten Ausstattung für Ingenieurstudiengänge mit 58 Prozent.

Weit abgeschlagen auf dem letzten Platz mit 16,8 Prozent lag die Ansicht, Ingenieuren aus dem Ausland die Zuwanderung zu erleichtern. Statt auf Palliativmaßnahmen setzt man auf längerfristige Prozesse: "Eine gezielte Rekrutierung ausländischer Ingenieure wird (...) lediglich von jedem fünften Ingenieurunternehmen betrieben."

Überhaupt stellt die Studie im Zeitalter der Globalisierung eine erstaunliche Schollenverbundenheit der Unternehmen fest: "Eine Verlagerung der von Ingenieurengpässen betroffenen Unternehmensabteilungen ins Ausland wird (...) nur von einem sehr geringen Anteil der Unternehmen in Erwägung gezogen. Nicht zuletzt die als sehr gut empfundene Ausbildungsqualität der deutschen Ingenieure dürfte dabei als einer der entscheidenden Standortvorteile Deutschlands fungieren." Das Vertrauen in Ingenieure "made in Germany" ist also noch ungebrochen. Doch auch dieser Ruhm wird sich irgendwann aufzehren, wenn man ihn nicht erneuert.

Die aktuelle Studie "Ingenieurlücke in Deutschland - Ausmaß, Wertschöpfungsverluste und Strategien" kann beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Telefon: 02 21 / 49 81-716) bezogen werden.

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