© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

"Die Contrebande, die mit mir reist ..."
"... die hab ich im Kopfe stecken": Noch mit achtzig Jahren trotzt Hans-Dietrich Sander allen Anfeindungen
Thorsten Hinz

Aber ich bin doch auch ein Flakhelfer! Allerdings ein aus der Art geschlagener!" Gut, daß Hans-Dietrich Sander einen daran erinnert. Sonst käme man unmöglich auf den Gedanken, ihn in Verbindung zu bringen mit Dahrendorf, Enzenberger, Habermas, Kohl und all den anderen, die seiner Alterskohorte angehören und die lange Zeit das juste milieu der Bundesrepublik bildeten. Diese zwischen 1926 bis 1930 geborene, vom Zweiten Weltkrieg geprägte Flakhelfer-Generation, war - nach dem Diktum Günter Maschkes - "zu jung, um die Prügel zu verstehen, die sie empfing". Sie "wurde ein Opfer der Gemeinschaftskundewelt, der Care-Pakete, der amerikanischen Stipendien für 'Demokratiewissenschaft' (Politologie) und der Legende vom britischen Parlament. Die schöne neue Welt, die die Vertreter dieser Generation nach Blut und Dreck erschauen durfte, wurde von der einen Fraktion von ihr später als realisiert angenommen, von der anderen aggressiv eingefordert (...)"

Sander, von Haus aus Literatur- und Theaterwissenschaftler, dann Journalist, politischer Publizist, Buchautor, Herausgeber, besaß alle Fähigkeiten, um sich eine führende Position in dieser Szene zu verschaffen. Seine von Hans-Joachim Schoeps betreute Dissertation über "Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie" (1969) ist das beste, was zu diesem Thema überhaupt geschrieben wurde. Seine "Geschichte der Schönen Literatur in der DDR" (1972) thematisierte explizit die "nationale Dialektik", die sich 1989 bestätigen sollte: Nicht die Bundesrepublik, sondern die DDR würde die deutsche Wiedervereinigung herbeiführen.

Die besten seiner Kommentare zur politischen und geistigen Mentalität der Bundesrepublik, die er für die Zeitschrift Criticón und zwischen 1990 und 2001 für die von ihm herausgegebenen Staatsbriefe verfaßte, lassen die Aufsätze und Marginalien des Merkur-Herausgebers Karl-Heinz Bohrer als handzahme, von geschichtlicher Ahnungslosigkeit geprägte Petitessen erscheinen. Sander zählt neben Robert Hepp, Armin Mohler, Bernhard Willms und anderen zu jenen Publizisten und Wissenschaftlern, die in den siebziger und achtziger Jahren nochmals eine anspruchsvolle, fundamentalkritische Bestandsaufnahme der Bundesrepublik unternahmen. Die Schweigespirale verdammte sie zur Wirkungslosigkeit, während ihre Analysen sich bestätigt haben.

In der schönen neuen Welt wollte er sich nie einrichten

Um sich in der schönen neuen Welt einzurichten, war Sander zu wenig korrumpierbar. Diese Welt stellte für ihn eine Simulation dar, die es zu beschreiben, zu enthüllen und zu widerlegen galt. An seinem 80. Geburtstag, den er am 17. Juni, einem deutschen Schicksalstag, begeht, wird er keine Glückwünsche staatlicher Repräsentanten erhalten. Was nicht heißt, daß der Staat ihn vergessen hätte. Kürzlich erst veranstalteten mehr als zehn Beamte, zwei davon schwer bewaffnet, bei ihm eine frühmorgendliche Hausdurchsuchung. Die Handhabe dazu bot eine falsche, vor Jahren verfaßte Pressemitteilung eines notorischen Berserkers, die Sanders Mitgliedschaft in einer eben verbotenen Organisation behauptet und Eingang in den Verfassungsschutzbericht gefunden hatte. Die Beamten seien höflich gewesen und hätten ihre dreistündige Maßnahme auf das Arbeitszimmer beschränkt. Fündig seien sie nicht geworden, doch die Beschlagnahme des Computers sei ärgerlich, sagt Sander. Man möchte an diesem warmen Sommertag, an dem wir auf der Terrasse vor seinem Haus sitzen, aus Heines Wintermärchen zitieren: "Ihr Toren, die Ihr im Koffer sucht! / Hier werdet Ihr nichts entdecken! / Die Contrebande, die mit mir reist, / Die hab ich im Kopfe stecken."

Sander, der 1948 an der Freien Universität in Berlin Theologie, Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie zu studieren begonnen hatte, ist ein Mann von buchstäblicher Eigen-Art. In der Hochzeit des Kalten Krieges interessierte er sich für den Marxismus und Brecht und geriet in den Ruf, "kommunistisch infiltriert" zu sein. Der Theaterkritiker Herbert Ihering verschaffte ihm die Möglichkeit, Brechts Theaterproben beizuwohnen. 1952 wechselte er nach Ost-Berlin, um 1957 wieder in den Westen zu flüchten. Er ging zur Welt, die von Hans Zehrer geleitet wurde. Zehrers Stellvertreter Ernst Cramer strich aus einem seiner ersten Artikel den Satz, die Hinrichtung der deutschen Militärs in Nürnberg werde von der angelsächsischen Historiographie längst als Justizmord vermerkt. Eine Zensurmaßnahme, die Sander prägte: Wie konnte er als politisch Denkender und Handelnder ein freier Mensch sein, wenn man ihm die freie, öffentliche Rede über die Geschichte seines Landes beschnitt?

Seitdem ist die Lage, wie er zornig, aufbegehrend, resignierend vermerkt hat, viel schlimmer geworden. Vor 20 Jahren prognostizierte er in dem Buch "Die Auflösung der Dinge" als kommendes Schicksal der Deutschen die "Imitatio Ahasveri", den Nachvollzug des Schicksals der heimatlosen Juden. Sander weiß, daß er mit solchen Spekulationen "verbrannte Erde" betritt - der tragische Gehalt dieser Formulierung ist ihm gründlicher bewußt als den aktuellen Betroffenheitsschwaflern, die als ein antisemitisches Klischee abtun, was für hochrangige jüdische Gelehrte ein quälendes, schicksalhaftes Problem war.

Der 1933 von Nationalsozialisten ermordete Theodor Lessing schrieb in seinem Aufsatz über Georg Simmel vom "wurzellosen Luftmenschentum" einer "überfunktionellen Gruppe ohne jungfräulichen Boden und konservatives Hinterland". Sander interpretierte subtil die Texte des hochgeschätzten Walter Benjamin, dessen "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" eine Suche nach dem "Gesetz des Ortes" sei. Und in der Untersuchung über die Aura des Kunstwerks habe Benjamin dargelegt, daß die Aura erst in der Spannung zum "einmaligen Dasein an dem Orte, an dem es (das Kunstwerk) sich befindet", entstehe. Indem die Deutschen die ortlose Existenzform, an der viele Juden gelitten haben und die mit der Gründung des Staates Israel behoben ist, durch den "Verlust der topographischen Identität" mutwillig herbeiführen, gehen sie ihrer "eingeborenen Auffassungsgabe und Urteilskraft" verlustig. Ihre Imitatio ist "existentiell nicht gedeckt", sie trägt die Merkmale des Doktrinären und der "brutalen Roheit". Es fehlt ihr der Sinn für das Maskenspiel, für den Charme und die Sensibilität der in der Diaspora entwickelten jüdischen Geistigkeit. Der Eifer der deutschen "Selbstentortung am Ort (schillert) in allen Farben eines falschen Bewußtseins". Um in solchen Gedankengängen auch nur Spuren eines Antisemitismus festzustellen, müssen sich schon Dummheit mit politisch motivierter Vernichtungswut mischen.

Sander ist mit Blick auf die staatliche und politische Existenz der Deutschen skeptisch. 1980 hatte er noch ein Buch über den "Nationalen Imperativ" veröffentlicht, in dem er "Ideengänge und Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands" zusammentrug. Scharf grenzte er sich von Gottfried Benn und Arnold Gehlen ab, die keine Zukunfts­chance für Deutschland mehr gesehen hatten. Deutschland sei keineswegs "widerlegt", dafür bürgten der Wiederaufbau nach 1945 und der politische Selbstbehauptungswille, wie er sich in Konrad Adenauer personifiziert hätte. Die Wiedervereinigung schien Sander recht zu geben.

Für Sander ist Deutschland keineswegs "widerlegt"

Seit 1992/93 aber hält er die "Höllenfahrt" der Bundesrepublik, die er mit einem fürchterlichen Aufschlag enden sieht, für unabwendbar, ja für nötig, damit überhaupt noch die Chance einer Katharsis aufscheint. Zwei verlorene Weltkriege hätten zuviel menschliche Substanz zerstört, so daß es nach 1945 in der BRD und in der DDR keine intakten Eliten mehr gab. Zudem seien beide deutsche Staaten unter Besatzeraufsicht entstanden. Unter Fremdaufsicht aber könnten keine neuen Eliten nachwachsen, nur eine Negativauslese der "Ochlokraten" würde sich herandrängen, die bereit sei, das Fremdinteresse zu ihrem eigenen zu machen. Selbst das Wirtschaftswunder entfaltete unter diesen Umständen eine negative Dialektik: Der Wohlstand, den es erzeugte, ließ die Leistungsethik, auf der es beruhte, verludern. Da den Deutschen das historische Wissen abhanden gekommen ist, könnten sie keine Vergleiche ziehen und gar nicht begreifen, wie ihnen geschieht.

Trotz seiner prospektiven Apokalyptik hält sich Sander keineswegs für einen Pessimisten. Er ist kein verbitterter, sondern ein hellwacher, lebensfroher Mann, der in einem behaglichen, büchervollen Haus bei Berlin lebt, umsorgt von einer vitalen Frau, die mit ihm seit Jahrzehnten allen Anfeindungen trotzt. Zu seinem 80. Geburtstag hat er eine Festschrift zu erwarten, zu der unter anderem Peter Furth, Günter Maschke, Bernd Rabehl, General a.D. Reinhard Uhle-Wettler und Günter Zehm Aufsätze beigesteuert haben. Im Verlag Antaios wird sein langjähriger Briefwechsel mit Carl Schmitt erscheinen. Wie jeder wahrhaft geistige Mensch darf er es mit Grillparzer halten: "Will unsere Zeit mich bestreiten, / Ich lass es ruhig geschehn, / Ich komme aus andern Zeiten / Und hoffe in andre zu gehen."

Foto: Hans-Dietrich Sander: Ein aus der Art geschlagener Flakhelfer

Heiko Luge (Hrsg.): Grenzgänge - Liber amicorum für den nationalen Dissidenten Hans-Dietrich Sander zum 80. Geburtstag. Ares Verlag, Graz 2008, gebunden, 352 Seiten, 4 s/w-Abbildungen, 29,90 Eur

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