© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

"Aus Gründen der Pietät die Öffentlichkeit nicht unterrichtet"
In Dresden wurden jüngst gefundene Leichen von Opfern des Bombenangriffs vom Februar 1945 heimlich bestattet / Historikerkommission kündigt Ergebnis an
Hans Joachim von Leesen

Am 21. Mai erregte die Dresdner Ausgabe der Bild-Zeitung in der sächsischen Landeshauptstadt erhebliche Aufmerksamkeit, als sie mit großen Lettern meldete: "14 Leichen auf dem Neumarkt entdeckt". Durch einen Informanten wurde Bild darauf hingewiesen, daß seit dem 14. Mai 2002 immer wieder Überreste von Bombenopfern bei archäologischen Arbeiten auf dem Neumarkt gefunden worden seien. Unter den Toten waren drei kleine Kinder und zwei Soldaten der Wehrmacht.

Diese Funde waren um so bemerkenswerter, als noch im Februar dieses Jahres der Sprecher des sächsischen Landesamtes für Archäologie, Christoph Heiermann, ausdrücklich festgestellt hatte: "Es gibt definitiv keine Funde von Bombenopfern auf dem Neumarkt." Auf Nachfragen bei der Staatsanwaltschaft fanden sich die Unterlagen der 14 auf dem Neumarkt ausgegrabenen Leichen. Schon die frühere Landesarchäologin Judith Oexle beteuerte am 26. April 2006 in einem Vortrag: "Nicht in einem einzigen Fall haben wir einen Toten oder Teile eines Skelettes gefunden."

Offensichtlich sollten die auf dem Neumarkt entdeckten Überreste der Öffentlichkeit gegenüber geheimgehalten werden. Klammheimlich wurden im Ehrenhain des Johannisfriedhofs die Knochen von elf Bombenopfern begraben. Die Gebeine der beiden Wehrmachtsoldaten befinden sich seit 2003 im Institut für Rechtsmedizin der Universität, während der Verbleib des 14. Skeletts aus dem Jahre 2007 unklar ist. Mit den Ergebnissen der Bild-Recherche konfrontiert, erklärte Oexle, man habe sie seinerzeit von den Funden nicht informiert. Heiermann hingegen sagte, man habe aus Gründen der Pietät die Öffentlichkeit nicht unterrichtet. Daß man die Funde geheimgehalten hat, erregte viele Dresdner, die noch ihre bei den Bombenangriffen vermißten Angehörigen suchen, noch mehr aber, daß man sich nicht die Mühe gemacht hat, die Toten zu identifizieren. Mehrere klagen, daß nahe Angehörige zum letzten Mal auf dem Neumarkt gesehen wurden und sehr wohl zu den jetzt gefundenen Leichen gehören könnten.

In verschütteten Kellern "noch viel mehr Tote"

Die Geheimhaltung läßt die Vermutung zu, man habe dadurch jene stützen wollen, die in den letzten Jahren darauf beharrten, nicht viel mehr als 25.000 Dresdner seien Opfer der Luftangriffe geworden; weitere Leichenfunde größeren Umfangs seien nicht zu erwarten. Nun handelt es sich bei 14 entdeckten Toten in der Tat nicht um eine Größenordnung, die die bisher nicht belegte Opferzahl von 25.000 wesentlich beeinflussen könnte. Man fragt sich aber, ob nicht viel mehr Dresdner noch unter den Trümmern und in zugeschütteten Kellern liegen. Ein Dresdner, der damals als Hitlerjunge mitgeholfen hat, die Leichen zu bergen, äußerte die Ansicht, daß in den damals verschütteten Kellern "noch viel mehr Tote" liegen müssen. Unter den damaligen Verhältnissen habe man sie einfach nicht bergen können.

Der Vorsitzende der vor bald vier Jahren etablierten Historikerkommission zur Erforschung der wirklichen Dresdner Verlustzahlen, Rolf Dieter Müller, zeigte sich überrascht, doch wertet er die neuen Funde mit Recht als "Einzelfälle", gibt aber zu, daß er umdenken müsse, wenn sich erweisen sollte, daß tatsächlich noch Tausende unter den Trümmern liegen.

Die Ergebnisse der Kommissionsarbeit will Müller im Rahmen des Deutschen Historikertages veröffentlichen, der Ende September in Dresden stattfindet. Bis dahin aber kann die bisher wohl gründlichste Untersuchung über die Verluste in Dresden, die Wolfgang Schaarschmidt in seinem Buch "Dresden 1945 - Daten, Fakten, Opfer" (München, 2005) niedergelegt hat, als den Tatsachen am nächsten kommend bewertet werden. Schaarschmidt hält "Schätzungen von 135.000 bis 150.000 Toten für begründet".

Der stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft Historischer Neumarkt, Torsten Kulke, erneuert derweil die Forderung, endlich eine Gedenktafel für die Bombenopfer auf dem Neumarkt zu errichten. Mindestens ebenso angebracht wäre eine solche Tafel auf dem Altmarkt, wo Anfang März 1945 die Leichen von 6.865 bis 9.000 Bombenopfern verbrannt wurden.

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