© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/08 27. Juni 2008

Propaganda und Provokation
Eine Berliner Schau würdigt die Kunst des Kriegsfotografen Jewgeni Chaldej
Bärbel Richter

Ein Indiz darauf, wer wen angriff, wer wem zuvorkam an jenem 22. Juni 1941, liegt vielleicht auch im Ausmaß und Organisationsgrad bestellter Propaganda. Während die deutsche Wehrmacht jede ihrer Armeen mit einer eigenen Propagandakompanie versah, bestehend aus drei Kriegsberichterzügen und einem Propagandazug, Fotoreportern, Journalisten, Textern, Kameraleuten, sah sich die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee (GlavPUR) zu einiger Improvisation veranlaßt. Schließlich versah man gut 200 Fotojournalisten mit einem militärischen Rang und delegierte sie, oft miserabel ausgestattet, an diverse Frontabschnitte. Nicht wenige von ihnen verstanden sich auch als Fotokünstler. Doch nur einem - Jewgeni Chaldej (1917-1997) - war es vorbehalten, am 2. Mai 1945 jenes Motiv zu fotografieren, das neben dem Porträt Che Guevaras zum meistgedruckten Fotomotiv des Jahrhunderts werden sollte: die Hissung der sowjetischen Flagge auf dem Reichstagsgebäude. Im Berliner Martin-Gropius-Bau ist Chaldej zurzeit eine Retrospektive gewidmet, die seinen Rang als einer der bedeutendsten russischen Fotografen des 20. Jahrhunderts dokumentiert.

Zwar gehört er nicht wie Rodtschenko zu den frühen Revolutionären der noch jungen Kunstform, aber leicht machte er es sich dennoch nicht. Für einen jüdischen sowjetischen Kriegsfotografen mit künstlerischem Anspruch gab es Untiefen genug.

Den Realismus bis weit an die Grenze des verpönten, weil den Optimismus des "neuen Menschen" unterlaufenden Naturalismus vorzuschieben und eine neue fotografische Ausdrucksform des Individuellen zu finden, die nicht leicht des Subjektivismus geziehen werden konnte - all dies gelang Chaldej. Und als er schließlich 1948 doch noch ungeachtet seiner Bedeutung kaltgestellt wurde, dann wegen seiner jüdischen Herkunft.

Das Bild, das ihn berühmt machte, hängt samt Varianten und Retuschierungsversionen gleich am Anfang der Schau - vielleicht, damit man es rasch hinter sich lasse, denn es ist zwar das bekannteste, aber nicht das bedeutendste Bild Chaldejs. Unzweifelhaft ist es ein Propagandabild. Von derlei Bildern gibt es sonst in seinem Werk nicht viele. Und auch dieses verdankt sich eigentlich einem Mißverständnis: Man glaubte, der Reichstag sei so etwas wie der deutsche Kreml, das Machtzentrum der NS-Herrschaft. Trotzdem war es nicht das Bild, auf das man in Moskau nur gewartet hatte: Es erschien erst elf Tage später im Wochenmagazin Ogonjok - im Innenteil. Das Bild der Fahnenhissung ist - bedenkt man den Aufwand erst an Akrobatik, dann an Retusche - in jeder Hinsicht artistisch. Dachten die Soldaten daran, daß in diesem Hause von nun an sowjetischer Geist wehen soll? Schwerlich.

Ein weiteres Bild von mythischer Dimension, vielleicht das herrlichste der ganzen Schau, dokumentiert einen ganz sonderbaren Regreß in Zarenzeit und vorzaristische Geschichte just in dem Augenblick, als die Sowjetmacht in ihrem Zenit stand. Es zeigt den Verteidiger Moskaus und Sieger von Berlin, Marschall Schukow, in Vertretung Stalins die Siegesparade auf dem Roten Platz abnehmend, auf einem edlen weißen Achal-Tekkiner, jener Rasse Kriegerpferde aus der kasachischen Steppe, aus der auch das berühmte Pferd Alexanders des Großen, Bukephalos, stammen soll. Von ihnen heißt es, daß sie im Galopp aussähen, als ob sie flögen. Nur zwei Aufnahmen machte Chaldej von dieser Szene, so sehr zitterten ihm Hände und Knie. Nur eine der beiden fand Eingang in sein Werk. Sie zeigt das Pferd und Marschall Schukow in vornehmer kerzengerader Haltung  in vollem Galopp genau in jenem Bruchteil von Sekunden, als keines seiner Hufe den Boden berührt. Das Schweben des Rosses gibt dem Bild eine trügerische Lyrik. Es spannt einen unendlich scheinenden Raum zwischen dem Marschall und der übrigen Welt. Auch Schukow selbst empfand es so: "Vor mir lag alles wie im Nebel. Ich erinnerte mich an alle Soldaten, die Toten, die ich gesehen hatte."

Doch ritt nicht auch Napoleon auf einem weißen Roß? Und ist nicht überhaupt die ganze Symbolik reichlich monarchistisch? Auch Stalin kann es nicht entgangen sein: Hier triumphierte nicht nur ein Feldherr, hier triumphierte ein Herrscher, der dies vielleicht nicht ahnte. Doch dieses Symbol war unzweifelhaft eine Provokation der gesamten sowjetischen Idee. Im Frühjahr 1946 wurde Schukow von Stalin nach Odessa versetzt.

Ein anderes, unscheinbares Bild zeigt keinen Raum, sondern verbirgt ihn. Zu sehen ist nur eine gepanzerte Tür im Gestapo-Hauptquartier. Man sprengte sie. Dahinter war ein Raum. Dann noch ein Raum, und darin war ein Safe. Und weil kein Schlüssel aufzutreiben war, wurde auch dieser gesprengt. Was war darin? Ein Schächtelchen mit einem Mittel gegen Kakerlaken. Ob einer der Rotarmisten an Majakowskis "Die Wanze" dachte und die heikle Botschaft wohl verstand? Sieht es in euren Safes nicht ganz genauso aus? Vielleicht verstand es nur der Fotograf. Und schwieg.

Die Ausstellung ist bis zum 28. Juli im Berliner Martin-Gropius-Bau täglich außer dienstags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon:  030 / 2 54 86-0. Der Ausstellungskatalog (Neuer Europa Verlag, Leipzig) kostet gebunden 29 Euro.

Foto: Nachgestellte Szene, wie Soldaten der Roten Armee die sowjetische Flagge auf dem Reichstagsgebäude hissen, fotografiert von Jewgeni Chaldej (2. Mai 1945): Eine Armbanduhr wegretuschiert

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