© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/08 27. Juni 2008

Das Rätsel harrt seiner Lösung
Auch nach einhundert Jahren ist die Tunguska-Katastrophe vom 30. Juni 1908 in Sibirien nicht schlüssig erklärt
Wiebke Dethlefs

Vor genau einhundert Jahren, am 30. Juni 1908, ereignete sich die größte und auch geheimnisvollste Naturkatastrophe in der Menschheitsgeschichte. Bis heute existieren zahlreiche Erklärungsmodelle. Doch ist keine dieser Hypothesen und Mutmaßungen schlüssig bzw. frei von Widersprüchen. Bis heute rätseln Geologen, Astronomen und Physiker über diesen mysteriösen Vorfall. Niemand weiß mit Gewißheit zu sagen, was damals wirklich passierte.

Um 7.17 Uhr Ortszeit wurde im mittleren Sibirien ein Gebiet von 6.000 Quadratkilometern, etwa 400 Kilometer nordöstlich von Krasnojarsk am Fluß Steinige Tunguska gelegen, durch eine gewaltige Druckwelle verwüstet. Kurz vorher war am Himmel ein ungewöhnliches, metallisch-strahlendes zylindrisches Objekt sichtbar, das über das Flußtal der Tunguska hinwegzog. Nach dem Verschwinden des seltsamen Himmelskörpers setzte eine gewaltige Reihe von Explosionen ein, und noch in eintausend Kilometer Entfernung bebte die Erde. 200 Quadratkilometer Wald, etwa achtzig Millionen Bäume, entzündeten sich durch Blitze, die die Explosionen begleiteten. Eine bis heute unbekannte Zahl tunguskischer Taiga-Bewohner kam ums Leben.

Die Druckwellen der Explosionen umrasten den ganzen Globus, seismologische Stationen registrierten weltweit das Ereignis. Überall auf der Erde spielten Kompaßnadeln verrückt und zeigten in die unterschiedlichsten Richtungen. Es traten kurze, etwa fünf Stunden währende Magnetstürme auf. In der Woche nach der Katastrophe war es in Asien und Europa nachts nicht mehr dunkel - seltsamerweise auch in den Tagen unmittelbar davor, wie im nachhinein festgestellt wurde. Zahlreiche Polarlichter schimmerten fahl auch in niedrigen Breiten auf. Doch in der Weltöffentlichkeit fand der Vorgang zunächst keine größere Beachtung. Man interpretierte damals die Polarlichter als Reflexion von Staub in den höheren Lagen der Atmosphäre, der von einem gerade in diesen Tagen ausgebrochenen Vulkan auf den Aleuten herrühren sollte.

Die vorrevolutionären Unruhen, der bald folgende Erste Weltkrieg wie auch der russische Bürgerkrieg ließen den Vorfall auch in Rußland bald vergessen. Die Unzugänglichkeit des weit abgelegenen Ortes tat dazu das Ihrige. Zufällig gerieten dem aus dem estnischen Dorpat stammenden Geologen Leonid Kulik (1884-1942) Anfang der zwanziger Jahre alte sibirische Tageszeitungen in die Hand, worin über die Explosionen berichtet wurde. Der abenteuerlustige und engagierte Kulik organisierte sogleich eine Expedition zum Ort des Geschehens. Kulik nahm als Ursache der Katastrophe den Einschlag eines großen Meteoriten an und machte sich auf die Suche nach dem zugehörigen Krater. Doch fand er keinen. Nur waren überall die Bäume auf merkwürdige, fast spiralförmige Art umgeknickt, oft dabei zu parallelen Bündeln angeordnet. Seltsamerweise waren dabei einzelne, inselartige Zonen vorhanden, innerhalb derer die Bäume zwar stehengeblieben waren, dabei aber entastet wurden. Kulik unternahm bis 1939 fünf weitere Expeditionen, die Licht in das Rätsel bringen sollten, zwei weitere für 1942 und 1943 geplante konnte er wegen des Krieges nicht mehr durchführen. Er geriet als Offizier vor Moskau in deutsche Gefangenschaft, wo er an Typhus starb. Leider gingen fast alle Fotos, die er auf seiner Expedition vom Ort des Geschehens aufnahm und die heute als wichtige Basis für alle Überlegungen dienen könnten, während des Krieges verloren.

Erst zehn Jahre nach Kriegsende wurde die Forschung über den mysteriösen Vorgang wieder aufgenommen. Doch jede Suche nach Überresten eines zerborstenen Riesenmeteoriten war vergeblich. Seine errechnete Masse von wenigstens 500.000 Tonnen natürlicher Eisen-Nickel-Legierung hätte beim Aufprall unbedingt zur Bildung von Bruchstücken geführt; selbst wenn er vollends pulverisiert worden wäre, hätte man eine wenigstens zwei Millimeter dicke Schicht an Gesteinsstaub finden müssen. Auch konnte nirgendwo im gesamten Gebiet eine Anreicherung von Eisen und Nickel im Boden festgestellt werden, wie sie bei jedem Meteoriteneinschlag erfolgt. Nicht ein Gramm kosmischen Materials wurde bisher gefunden.

Ein italienisches Forschungsteam will allerdings jüngst einen Einschlagkrater entdeckt haben. Er befinde sich acht Kilometer vom Zentrum der Katastrophe entfernt und stamme von dem Bruchstück einer kosmischen Bombe, deren Hauptteil in der Luft verglüht sei. Der Krater ist vom heutigen Tscheko-See gefüllt. In dessen trichterförmigem Seebecken ist die Erde unterhalb des Seebodens ungewöhnlich hart und wurde nach Meinung der Forscher beim Aufprall kompaktiert. Doch überzeugt diese Version ebensowenig, denn dadurch  können die oberirdischen Explosionen nicht hinreichend erklärt werden. Und nahe der Explosionszentren blieben auch viele Bäume unbeschädigt. Das größte Problem bereiten den italienischen Wissenschaftlern die fehlenden Meteoritenfragmente. Denn auch sie konnten nicht ein kosmisches Körnchen finden. Mit einer Bohrung in den Grund des Tscheko-Sees hofft man, bald welche zu entdecken. Doch wenn nicht? Was konnte dann die Ursache für die Katastrophe wirklich gewesen sein?

Die Epoche des Kalten Krieges mit ihrem Damoklesschwert eines vernichtenden Atomschlags führte bei zahlreichen sowjetischen Wissenschaftlern in den fünfziger Jahren zur Theorie einer Nuklearexplosion, bei der ein Sprengkörper in einer Höhe von sechs Kilometern explodiert sein soll, was aufgrund komplexer Druckwellenausbreitung einzig jene stehengebliebenen Baumstämme erklären konnte, wie es kurze Zeit davor in Hiroshima bzw. auch bei sowjetischen Atomtests beobachtet werden konnte. Auch treten kurzzeitige Magnetstürme in der 1908 gemessenen Intensität ebenfalls nur bei Nuklearexplosionen auf. Eindeutig war der Nachweis radioaktiver Isotope in Baumringen aus Baumbestand der weiteren Umgebung, die auf das Jahr 1908 datiert werden konnten. Aber eine Nuklearexplosion 1908?

Das völlige Fehlen jedweden meteoritischen Restmaterials im Boden führte um 1960 zu der Annahme, daß hier kein Meteorit, sondern ein Komet auf die Erde aufgeschlagen sei und beim Aufprall komplett verdampft ist. Denn Kometen bestehen zu fast neunzig Prozent aus Eis und einigen Anteilen eingefrorener Gase wie Methan, Kohlendioxid und Kohlenmonoxid. Aber dieser Körper hätte wegen der Reibungshitze beim Durchrasen der Atmosphäre bereits in dreißig bis vierzig Kilometer Höhe verdampfen müssen. Und ein solcher kosmischer Schneeball führt beim Eintritt in die Lufthülle niemals zu magnetischen Anomalien. Das rätselhafte Katastrophengebiet wurde 1958 seitens der Sowjets zum Sperrgebiet erklärt, die Forschungsergebnisse nicht mehr international publiziert. Dafür traten international Anhänger von exotischen Theorien auf, die die Explosion eines atomgetriebenen Raumschiffes einer außerirdischen Zivilisation postulierten. Was war der von den Ureinwohnern des Gebiets beobachtete seltsame zylindrische Flugkörper?

Handelte es sich vielleicht um ein geheimes Experiment des genialen, auch heute noch wenig gewürdigten serbischen Physikers Nikola Tesla? Dieser soll seinem Geldgeber, dem amerikanischen Konzern Westinghouse, die Vernichtungskraft einer neuartigen Energiewaffe vorgeführt haben. Tesla suchte sich dafür ein möglichst abgelegenes Gebiet, frei von menschlicher Besiedlung. Nachweislich hat er dafür in der Bibliothek von Long Island, wo er sein Laboratorium hatte, vorher Karten des Baikal-Gebiets und der Tunguska-Region ausgeliehen. Teslas heute in Vergessenheit geratene Energieexperimente beruhen auf der Dienstbarmachung der irdischen Magnet- und Schwerefelder. Diese werden gebündelt und können auf beliebige Ziele fokussiert werden, wobei große Zerstörung hervorgerufen wird.

Wolfgang Kundt von der Universität Bonn vertritt aktuell eine bisher nicht in Betracht gezogene Ursache. Er vermutet eine vulkanische Explosion, ähnlich der Bildung eines Maars wie in der Eifel. Dafür spricht seiner Meinung nach die Existenz zahlloser trichterförmiger Löcher im Epizentrum, die Durchmesser zwischen fünfzig und einhundert Meter haben. Ebenso deuten nach seiner Vorstellung die hellen Nächte vor und nach der Katastrophe auf die Freisetzung von vulkanischen Gasen wie Methan und Wasserdampf hin, die durch die Explosion in kondensierter Tröpfchenform bis in die oberste Atmosphäre gelangten und dann in fast eintausend Kilometer Höhe für die Streuung des Sonnenlichts sorgen, ähnlich wie es schon bei der Explosion des Krakatau 1883 beobachtet werden konnte. Außerdem liege das Tunguska-Gebiet im Schnittpunkt mehrerer tektonischer Schwächezonen der Erdkruste, in denen vulkanische Aktivität etwas ganz Alltägliches sei.

Neuartig ist auch die jüngst geäußerte Vermutung zweier amerikanischer Physiker, daß ein sehr kleines "schwarzes Loch" damals in die Erde im Tunguska-Gebiet eingedrungen ist und sie im Nordatlantik wieder verlassen hat. Frei im All umherwandernde "Schwarze Löcher" mögen durchaus möglich sein, doch konnte bisher keines sicher nachgewiesen werden. Damit verwandt ist eine schon 1936 von dem späteren Nobelpreisträger Paul Dirac aufgestellte Theorie von der Existenz von Antimaterie, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder Aktualität erlangte. 

Die Bausteine von Atomen zeigen eine bestimmte elektrische Ladung. Protonen sind positiv, Elektronen negativ geladen. Doch müsse es nach Dirac auch positive Elektronen und negative Protonen geben. Jedes Elementarteilchen besitzt hypothetisch also ein spiegelbildliches Gegenstück. Nachdem im Europäischen Kernforschungszentrum in Genf 1996 erstmals Antiwasserstoff hergestellt werden konnte, wird seitens der Physik die Existenz von Antimaterie im All als wahrscheinlich angesehen. Beim Kontakt mit regulärer Materie kommt es zu ungeheuren Energiefreisetzungen. Ein halbes Gramm Antimaterie entwickelt dabei die Vernichtungskraft einer Hiro-shima-Bombe. Kam 1908 vielleicht ein Stückchen Antimaterie in Berührung mit der Erde?

Während Leonid Kuliks Expedition 1927 wurden auch die Ureinwohner der Region, die Ewenken, zu dem Vorgang befragt. Sie wichen zunächst ängstlich allen Fragen aus, auch war keiner bereit, die Expedition in das Zentrum der Katastrophe zu begleiten. Nur nach langem Insistieren gaben sie eine Erklärung ab. Ein Stück Sonne sei abgerissen und auf die Taiga herabgefallen. Ist das nach all den vorgestellten unzulänglichen Erklärungsmustern das vielleicht glaubhafteste?

Fotos: Sowjetische Briefmarke mit Geologen Kulik: Ab 1958 zum Sperrgebiet erklärt, Forschungsergebnisse international zurückgehalten; Waldschäden durch das Tunguska-Ereignis, Foto 1927: Die Bäume waren auf merkwürdige, fast spiralförmige Art umgeknickt

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