© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/08 27. Juni 2008

Als die Alliierten die Bundesrepublik beschlossen
Vor sechzig Jahren regelten die Westalliierten in den "Frankfurter Dokumenten" die Neuorganisation ihrer deutschen Besatzungszonen
Lothar Karschny

Vor dem Hintergrund des heraufziehenden Ost-West-Konflikts beriefen die drei westlichen Besatzungsmächte im Februar 1948 eine Konferenz nach London ein, die sich mit der Zukunft Deutschlands befassen sollte. Es ging dabei jedoch nicht um Deutschland als Ganzes, denn nur die Neuorganisation des westdeutschen Besatzungsgebietes stand auf der Tagesordnung. Ziel war die Herstellung von Verhältnissen, die bei einem Minimum an Einsatz die maximale Stabilität des Besatzungsgebietes sichern sollte. Dieses sollte vor kommunistischer Einflußnahme geschützt und gegen alle Bestrebungen nach nationaler Eigenständigkeit langfristig in den westlichen Herrschaftsbereich eingegliedert werden.

Die ins Auge gefaßte Neuorganisation ohne die Berücksichtigung der sowjetischen Besatzungszone - sowie der Polen und der Sowjetunion zur Verwaltung übergebenen deutschen Ostgebiete - bedeutete praktisch die Teilung Deutschlands. Um den Eindruck zu vermeiden, daß es in London nur darum gehe, die fertigen Pläne zur Teilung Deutschlands der Öffentlichkeit zu präsentieren, wurden auch Luxemburg, Belgien und die Niederlande zu den Beratungen eingeladen, und die Presse verbreitete den Begriff "Sechs-Mächte-Konferenz". Die Teilnahme von Vertretern Deutschlands wurde nicht in Betracht gezogen. Nach dem Ende der Konferenz am 2. Juni traten die Außenminister der drei Westalliierten im Juni erneut zusammen und einigten sich schließlich auf eine gemeinsame Besatzungspolitik für das westliche Deutschland.

Auf beiden Konferenzen waren die unterschiedlichen Auffassungen Frankreichs und der USA deutlich zutage getreten. Während Frankreich die Fremdherrschaft so lange wie möglich aufrechterhalten und die Wiederherstellung einer deutschen Staatlichkeit in eine unbestimmte Zukunft verschieben wollte, sprachen sich die USA gegen die Fortsetzung der direkten Herrschaft der "Besatzungsmächte" aus, die als Willkürherrschaft empfunden werden konnte.

Sie legten Pläne für einen föderal gegliederten Staat mit einer schwachen Zentralgewalt vor, die unter einem Besatzungsstatut arbeiten und die informelle Steuerung der politischen Entwicklung ermöglichen sollte. Ergebnis der Dreier-Konferenz im Juni war die Aufforderung an die deutschen Länderverwaltungen, nach alliierter Maßgabe eine Verfassung für den westlichen Teil Deutschlands auszuarbeiten.

Die Londoner Beschlüsse trafen in der deutschen Öffentlichkeit auf einhellige Ablehnung. Viele sahen darin den leicht durchschaubaren Versuch, das Deutsche Reich zu zerschlagen und in den Westzonen ein Marionettenregime im Dienste der Besatzer zu errichten. Insbesondere die SPD hatte zuvor in ihren "Nürnberger Richtlinien" jeden Separatismus verurteilt und sich dafür ausgesprochen, die "Reichseinheit" unbedingt zu wahren. Die CDU war jedoch der staatlichen Einheit weniger verpflichtet, ihrem Vorsitzenden Adenauer wurde vorgeworfen, daß er schon in den zwanziger Jahren als Vertreter des "Rheinischen Separatismus" hervorgetreten war.

Trotz der deutschen Ablehnung beharrten die westlichen Militärgouverneure auf ihrer Forderung nach einer staatlichen Organisation unter ihrer Kontrolle und übergaben den Ministerpräsidenten der von ihnen geschaffenen Länder am 1. Juli 1948 die sogenannten "Frankfurter Dokumente". Darin legten sie ihre Vorstellungen für eine zukünftige deutsche Verfassung dar und stellten den Erlaß eines Besatzungsstatuts für die Westgebiete in Aussicht. Zur Verhinderung eines starken Zentralstaats sollte das neue West-Deutschland in Länder mit weitgehenden eigenstaatlichen Befugnissen gegliedert sein, an der Spitze des neuen Gebildes sollte  ein Präsident ohne wirkliche Macht stehen, eine Mehrparteiensystem sollte nach den formalen Regeln der Demokratie funktionieren, die wesentlichen Inhalte sollten jedoch bis auf weiteres von den Besatzungsmächten entschieden werden. Als Frist für die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung wurde der 1. September 1948 festgesetzt.

Besonders in den USA hatte man sich schon lange Gedanken darüber gemacht, was mit Deutschland nach dem Kriege geschehen sollte. Abgesehen von den Rache- und Vernichtungsplänen, die mit den Namen Morgenthau, Hooton und Kaufman verbunden sind, arbeitete auch der US-Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS), der später durch die Central Intelligence Agency  (CIA) abgelöst wurde, an Plänen für das unterworfene Deutschland. Das OSS konnte seit 1943 die an Max Horkheimers Institut für Sozialforschung wirkenden deutschen Emigranten Franz L. Neumann, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse als Mitarbeiter gewinnen, die fortan regelmäßige Deutschlandberichte verfaßten und an den Planungen für die Rekonstruktion einer deutschen Demokratie mit antinationalistischer und antifaschistischer Ausrichtung beteiligt waren. Dabei wurde die Gleichbehandlung aller politischen Parteien von Anfang an ausgeschlossen und auf die Herstellung einer "authentischen Demokratie" verzichtet. Auch wenn in dieser Scheindemokratie im Wirken des US-Geheimdienstes der "blinde Fleck der deutschen Nachkriegsdemokratie" zu suchen ist, kommt den Emigranten Marcuse, Kirchheimer und Neumann doch das Verdienst zu, nach ihren Erfahrungen als Verfolgte des NS-Regimes den freiheitlichen Geist der neuen deutschen Verfassung entscheidend beeinflußt zu haben.

Zunächst jedoch lehnten die Deutschen diese Bestrebungen der Sieger ab. Die Ministerpräsidenten der Länder tagten vom 8. bis zum 10. Juli 1948 auf dem Rittersturz bei Koblenz und beschlossen, die Forderungen der Besatzungsmächte nach Schaffung eines westdeutschen Separatstaates zurückzuweisen. Auch die vorgeschlagene Art eines Besatzungsstatuts lehnten sie ab. Dieses klare Nein ging als "Koblenzer Beschlüsse" in die Geschichte ein.

Die Militärgouverneure reagierten verärgert, sie betrachteten es als Anmaßung, daß die Deutschen die Londoner Beschlüsse und die Frankfurter Dokumente und damit auch die "demokratischen Errungenschaften des Westens" zurückwiesen. Besonders der US-Militärgouverneur Lucius D. Clay war nicht bereit, die Ablehnung hinzunehmen, und in einer weiteren Sitzung am 20. Juli 1948 wurden den Ministerpräsidenten die negativen Folgen eines Beharrens auf den "Koblenzer Beschlüssen" deutlich gemacht. Eine unbegrenzte Fortdauer des alliierten Besatzungsregimes bedeutete die Fortsetzung einer totalen Fremdherrschaft, die bisher durch Demontage, Vertreibung, Hungertod und unbeschreibliches Elend gekennzeichnet war. Die Annahme der alliierten Vorschläge bot die Chance, zumindest einen Teil des staatlichen Lebens wieder in die eigene Hand zu nehmen.        

Eine freie Wahl gab es unter diesen Umständen nicht. Dem alliierten Druck gaben die deutschen Vertreter schließlich nach und stimmten der Ausarbeitung einer Art Verfassung zu. Für diese wurde später von deutscher Seite der Begriff Verfassung vermieden und die Bezeichnung "Grundgesetz" gewählt, um den räumlich und zeitlich provisorischen Charakter dieses Organisationsstatuts herauszustellen, solange die territoriale Integrität und die Handlungsfähigkeit des Deutschen Reiches nicht wiederhergestellt waren. Dieser Reichsvorbehalt war somit die Grundlage des gesamten Verfahrens. Wie weit das Grundgesetz auch im Bewußtsein der Mitglieder des Parlamentarischen Rates von einer Verfassung entfernt war, davon zeugt die berühmte Rede Carlo Schmids "Was heißt eigentlich: Grundgesetz?" vom 8. September 1948 (nachzulesen unter http://www.krr-faq.net/pdf/redeschmid.pdf). Darin bezeichnet Schmid das Grundgesetz als die "Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft". Diese Einschätzung blieb damals ohne Widerspruch und war allgemeiner Bewußtseinsstand der politischen Klasse. 

Nach der Aufgabe des deutschen Widerstandes am 20. Juli 1948 tagten im August Verwaltungsbeamte der Länder auf der Insel Herrenchiemsee und leisteten Vorarbeiten für den Parlamentarischen Rat, der auf Weisung der Militärgouverneure zu bilden war. Dieser trat gemäß alliierter Fristsetzung am 1. September 1948 zusammen. Nach mehrmonatigen Beratungen nahm er am 8. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland an. Dieser Tag lag symbolträchtig genau auf dem vierten Jahrestag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und des Sieges über das Deutsche Reich.

Die Bezeichnung "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" deutete darauf hin, daß die Bundesrepublik nicht der Urheber, der Souverän, sondern nur das Objekt dieses Gesetzes ist. Da die Besatzungsmächte seit 1945 alle Hoheitsrechte in Deutschland für sich in Anspruch nahmen, mußte das Grundgesetz den Militärgouverneuren zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Genehmigung erfolgte am 12. Mai 1949. Am 23. Mai 1949, wiederum exakt vier Jahre nach der Beseitigung der letzten geschäftsführenden Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz, wurde das Grundgesetz in Kraft gesetzt.

Gleichzeitig mit der Genehmigung des Grundgesetzes verkündeten die Besatzungsmächte am 12. Mai 1949 ein Besatzungsstatut, das die eingeschränkten Befugnisse der deutschen Regierung in vielen Feldern der Politik festlegte. Außenpolitik, Vertriebenen- und Flüchtlingsproblematik, Finanzverwaltung, Innenpolitik, Forschung, Industrie, Zivilluftfahrt und die allgemeine Entwaffnung standen unter Kontrolle der Besatzungsorgane. Grundgesetzänderungen bedurften der Zustimmung der Alliierten Kommissare.

Damit stand das Besatzungsstatut über dem Grundgesetz, eine "alliierte Hohe Kommission" thronte über der Bundesregierung auf dem nahegelegenen Petersberg bei Bonn, Deutschland war weit davon entfernt, souverän zu sein. Für die Wahrnehmung der Deutschen auf der Show-Ebene des Politischen wie für ihr eigenes Selbstgefühl aber war die Bundesrepublik schon bald ein ganz normaler Staat.

Die Londoner Konferenzen von 1948 hatten erfolgreich den Grundstein für eine staatliche Zukunft gelegt, in der schon bald vergessen war, daß die Gründung der Bundesrepublik nicht nur unter alliierten Vorbehalten, sondern auch unter einem Vorbehalt von deutscher Seite stand, der im Namen "Grundgesetz" seinen Ausdruck fand. 

Foto: Konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Rates, Bonn 1. September 1948: Modalitäten der Fremdherrschaft

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