© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

Medien
Hitler und das Loch Ness
Dieter Stein

Bedrohlich nähern wir uns dem berühmt-berüchtigten Sommerloch. Die Bundestagsabgeordneten haben die Hauptstadt verlassen, in den ersten sechs Bundesländern herrschen bis Ende der Woche bereits Sommerferien. Es ist die Zeit, in denen sich Blattmacher die Schlagzeilen aus den Bleistiften saugen müssen, in denen mehr denn je Nachrichten "gemacht" werden. Es ist die Zeit, in der das Loch Ness hervorgeholt wird und nach dem Mann gefahndet wird, der den Hund beißt.

Wie ein Geschenk des Himmels für den Boulevard und auch Qualitätsblätter der Republik erschien da ein von Hartz IV lebender 41jähriger Ex-Polizist aus Berlin-Kreuzberg. Letzte Woche hatte Frank L. wieder einmal in seiner Stammkneipe gesessen. Ein Bier gab das andere. Man sprach über die Eröffnung der Berliner Dependance des Wachsfigurenkabinetts von Madame Tussaud in Berlin. Seit Tagen empörten sich die Zeitungen mit den großen Buchstaben darüber, daß neben dem Papst, Boris Becker, Madonna und Helmut Kohl auch der verblichene Reichskanzler Adolf Hitler, zusammengesunken an seinem Schreibtisch im Führerbunker, ausgestellt würde. Nicht zu fassen. Unglaublich. Frank L. sagte seinen Kumpels, er werde etwas dagegen tun. Nicht wegschauen. Eingreifen. Die Kumpels hielten dagegen. Top - die Wette gilt. Und so marschierte der Kreuzberger als dritter Besucher der neueröffneten Wachsfigurenausstellung an den Schreibtisch des Führers und vollendete, was Stauffenberg 64 Jahre zuvor versagt blieb: Er köpfte Hitler.

Wenn das keine saftige Geschichte für nachrichtenarme Zeiten ist! Damit überbrückt die Berliner Journaille die schwülen, ereignislosen Tage dieses Sommers. Angetrieben worden war Frank L. von den Schlagzeilen der Boulevardmedien, die sich hysterisch darüber empört hatten, daß Tussaud mit Hitler "Kasse machen" wollte. Wo komme man denn da hin! Wer wage das denn! Mit Hitler Besucher anlocken? Skandal!

Verschwiegen wurde geflissentlich, daß - wenigstens mit bescheidener Ausnahme dieser Zeitung - alle hochmögenden Blätter des Landes in relativ dichten Abständen ihre Auflagezahl in die Höhe treiben, indem sie den "Führer" möglichst in pathetischsten Posen auf die Titelseite heben. Neben "Sex sells" rangiert auf Platz 2 "Hitler sells" bei den Verlagsleitern offensichtlich als Top-Joker für den Auflagenkick.

Insofern ist es verlogen und albern, wenn man jetzt entrüstete Empörung darüber inszeniert (wieder auf Titelseiten, auf denen man - ein Lump, der Böses dabei denkt - wieder wenig unauffällig Hitlerporträts abdruckte), daß nun neben anderen illustren Gestalten der Zeitgeschichte der gescheiterte Schöpfer des "Tausendjährigen Reiches" in einem Panoptikum für Berlin-Touristen aufgestellt wird - was bereits in London und Hamburg (dort sogar seit 1948) geschah, ohne daß es die Gemüter erhitzte.

In der Phase zwei erhalten die Medien jetzt täglich neuen Stoff über den Stand der Renovierungsarbeiten an der beschädigten Puppe des "Führers", die - oh Schreck - wieder aufgestellt werden soll!

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