© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

Putsch per Verfassungsgericht
Türkei: Der Machtkampf zwischen den laizistisch-atatürkischen Eliten und der islamisch-konservativen Regierung eskaliert
Günther Deschner

Ein Verbotsprozeß gegen die Regierungspartei, Festnahmen, Attentatsdrohungen, Putschgerüchte: Die jüngsten Ereignisse zeigen, daß die Türkei gespalten ist wie nie zuvor. Der Machtkampf zwischen den beiden großen politischen Lagern, den laizistisch-atatürkischen Nationalisten und Militärs und der islamischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Premier Recep Tayyip Erdoğan, treibt seinem Kulminationspunkt zu.

In Ankara kam es zu filmreifen Szenen: Zur selben Zeit, zu der sich Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya durch den Hintereingang ins Verfassungsgericht begab, um sein Plädoyer im Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP zu halten, stürmten auf Weisung eben dieser Polizisten durch die Vordertür zahlreicher Büros und Wohnungen der Hauptstadt, um Akten, Computer und zwei Dutzend Männer mitzunehmen, die man verdächtigt, einen Putsch gegen die Regierung zu planen.

Die Zusammenhänge sind offenkundig. Es handelt sich nicht um ein zufälliges Zusammentreffen der Ereignisse, sondern um Schicksalstage, die die regionale Großmacht Türkei erschüttern und verändern können. Die verhafteten Gegner und Kritiker der AKP haben kein Hehl daraus gemacht, daß sie die derzeitige Regierung verschwinden lassen wollen. In früheren Jahrzehnten wäre das einfacher gewesen. Drei Militärputsche hat die Republik erlebt: 1960, 1971 und 1980. Beim ersten wurde die regierende Demokratische Partei verboten und der islamische Premier Adnan Menderes und zwei seiner Minister - nach fragwürdigen Strafprozessen - hingerichtet.

Doch der Kalte Krieg, im dem die Türkei die Nato-Südostflanke gegen die sowjetische Bedrohung sicherte, ist vorbei. Die Paschas können sich nicht mehr alles erlauben. Nach dem Putsch von 1980, als zahlreiche Menschen zu Tode gefoltert oder hingerichtet wurden, verdreifachte Deutschland seine Zahlungen an die türkische Armee. Das wäre heute kaum vorstellbar. Zudem hat der Westen ein großes Interesse an einer gemäßigt-islamischen Türkei, die der islamischen Welt die Vereinbarkeit von Demokratie, Marktwirtschaft und Westbindung demonstriert.

Nach einem erneuten Militärputsch wäre die Türkei politisch isoliert. Den Militärs um Generalstabschef Mehmet Yaşar Büyükanıt und Heereschef İlker Başbuğ ist dies präsent. 1997 konnte der damalige islamische Premier Necmettin Erbakan noch mittels Putschdrohung zum Rücktritt gezwungen werden. Seine Wohlfahrtspartei (RP) wurde verboten, Erbakan erhielt Politikverbot. Die gemäßigteren FP-Kader um Erdoğan und Abdullah Gül gründeten 2001 die AKP.

So sind es diesmal nicht die Generäle, sondern die Verfassungsrichter, die "putschen" sollen. Daher hat der Machtkampf 2008 etwas historisch Einzigartiges: Da will der oberste Ankläger des Staates Präsident Gül und Erdoğan jede politische Betätigung untersagen und deren Regierungspartei (die bei der Wahl 2007 46,6 Prozent erhielt) verbieten. Generalstaatsanwalt Yalçınkaya behauptet, es gehe um die Alternative zwischen der säkularen Republik, wie sie Kemal Atatürk 1923 geschaffen hat, und einem islamischen Gottesstaat, wie er Erdoğan und seiner AKP vorschwebe.

Informierte Beobachter sind jedoch der Meinung, es gehe eher um einen gnadenlosen Kampf um Macht, Einfluß und natürlich auch Pfründen. Auf der einen Seite stehen die kemalistischen Eliten, das Militär, das in seiner personellen Zusammensetzung davon dominierte Verfassungsgericht und andere Vertreter des "Tiefen Staats" in Medien und Wirtschaft. Diese alte Elite hat mit dem AKP-Regierungsantritt 2002 erstmals die Kontrolle über den Staat und viele seiner Einrichtungen verloren. Auf der anderen Seite stehen sozial arrivierte und islamisch-konservativ gestimmte anatolische Mittelschichten, die sich von dieser AKP gut vertreten fühlen.

Es gibt mittlerweile eine Fülle von Belegen dafür, daß die türkischen Generäle eine Art Psychokrieg gegen die eigene Regierung führen oder führen wollen. Zuletzt veröffentlichte die regierungsnahe Zeitung Taraf einen geheimen Aktionsplan des Militärs. Darin wird unter anderem empfohlen, Nachrichten, die der Regierung schaden, durch die "hierfür geeigneten Medienkanäle" zu verbreiten und Politiker, Künstler und Journalisten, die den Militärs gegenüber feindlich eingestellt sind, zu demontieren. Doch nicht nur die AKP, sondern auch die ebenfalls von einem Verbot bedrohte prokurdische DTP stehen auf der Liste der "Feinde der Streitkräfte". Die Echtheit des Aktionsplanes wurde vom Militär weder bestritten noch bestätigt. Wer die Türkei kennt, wird sich wohl kaum darüber wundern, daß das Militär in solche Aktivitäten verwickelt ist.

Schon vor Jahren waren Unterlagen der extrem chauvinistischen Geheimorganisation "Ergenekon" entdeckt worden. Viele ihrer prominenten mutmaßlichen Mitglieder, die im vergangenen oder diesem Jahr verhaftet wurden, sind dafür bekannt, daß sie unermüdlich die Gefahr einer islamistischen Unterwanderung des Staates durch die AKP und den Versuch der Zerschlagung des türkischen Einheitsstaates durch eine von der EU geforderte liberale Minderheitenpolitik heraufbeschwören.

Zu den Verhafteten gehörte der pensionierte Brigadegeneral Veli Küçük (der schon während seiner Dienstzeit in Geheimaffären verwickelt war) genauso wie der Chefredakteur der 1924 gegründeten kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet, İlhan Selçuk, oder der Vorsitzende der unbedeutenden nationalkommunistischen Arbeiterpartei (İP), Doğu Perinçek, der 2007 in der Schweiz wegen der Leugnung des Völkermords an den Armeniern zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Es überrascht deswegen nicht, daß zu ihnen auch der Rechtsanwalt Kemal Kerinçsiz gehört, der den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wegen einer Äußerung zur Armenier- und Kurdenfrage wegen "Erniedrigung des Türkentums" angezeigt hatte.

Doch auch die AKP-Regierung kämpft mit harten Bandagen um ihren Machterhalt. Richter, Generäle oder Oppositionspolitiker werden beobachtet und belauscht. Gewonnene Informationen, die sich für den psychologischen Kleinkrieg eignen, tauchen in der regierungsnahen Presse auf. So wurde zum Beispiel ein Foto veröffentlicht, das General Başbuğ vor der Klagemauer in Jerusalem zeigt - was ihn bei vielen frommen Muslimen diskreditiert.

Was Önder Sav, der Generalsekretär der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), in einem Vier-Augen-Gespräch über den Propheten Mohammed gesagt hat, war kurz darauf in der islamistischen Zeitung Vakit zu lesen. Berichtet wurde über den diskreten Besuch eines Verfassungsrichters beim Generalstab, der fast ein halbes Jahr zurückliegt. In der linksliberalen Zeitung Radikal wurde mehrfach spekuliert, ob die für den Psychokrieg erforderlichen Daten vom Innenministerium stammen. Dort wurde unter Erdoğan eine Abteilung für "Beziehungen zur Gesellschaft" eingerichtet, deren genaue Aufgaben und Aktivitäten unbekannt sind.

Foto: Büyükanıt, Gül, Erdogan (v.l.n.r.): Ein Psychokrieg um die Macht

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