© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

Deutsche Bomben auf Rom
Wells' Weltkrieg: Vor hundert Jahren erschien der politisch weitsichtige Roman "The War in the Air"
Heinz-Joachim Müllenbrock

Der Langzeitruhm des Engländers H. G. Wells (1866-1946) dürfte neben seinen Science-Fiction-Werken vor allem auf seinen zukunftsträchtigen, zur Zeit erstaunlicherweise kaum gewürdigten Weltstaatsvisionen beruhen (JF 52/06-1/07). Wells war jedoch nicht nur Kosmopolit, sondern gleichermaßen ein leidenschaftlicher Patriot. Als Literat und Publizist vertrat er die Interessen seines Landes und nahm dabei regsten Anteil an den zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen. So nahe war er am politischen Puls der Zeit, daß das Œuvre keines englischen Autors so tiefe Einblicke in die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges aus anglozentrischer Perspektive gewährt wie dasjenige von Wells; es ist eine Fundgrube von beachtlichem, deutschen Historikern allerdings weitgehend fremd gebliebenem historiographischen Informationswert.

Der Durchschnittsengländer Bert Smallways gerät als Spion wider Willen in das Zentrum der deutschen Luftrüstungsindustrie und wird an Bord des Luftschiffes "Vaterland" Augenzeuge des Angriffs einer in Wellsscher Phantasie als sinistre Phalanx heraufbeschworenen deutschen Luftflotte auf New York. Mit diesem nicht nur militärisch gemeinten Paukenschlag beginnt die Haupthandlung von "The War in the Air" (dt. "Der Luftkrieg"). Der 1908 erschienene Roman gehört zunächst in die gerade in jenen Jahren immer weiter anschwellende Invasions- und Spionageliteratur, die aus einem Gefühl vermeintlicher Bedrohung heraus Stimmung für größere britische Rüstungsanstrengungen machte. Erzählungen wie Erskine Childers' "The Riddle of the Sands" (1903) hatten das auf der Insel nicht zuletzt aufgrund der deutschen Flottenvermehrung um sich greifende Gefühl äußerer Gefahr reflektiert und zugleich intensiviert. "The War in the Air" teilt diese didaktische Zielsetzung und spiegelt insbesondere Wells' militärtechnisches Interesse wider. Schon seit "When the Sleeper Wakes" (1899) suchte er seinen Landsleuten die künftige Bedeutung der Luftwaffe vor Augen zu führen. Bereits wenige Jahre nach seiner eindringlichen Prophezeiung tauchten deutsche Zeppeline unheilkündend über London auf.

Aber nicht nur Wells' militärisches, vor allem sein politisches Sensorium verschafft sich hier Ausdruck. In "The War in the Air" erweist sich Wells als ein hochempfindlicher Seismograph der internationalen politischen Großwetterlage mit ihren heraufziehenden Turbulenzen und führt ein gewaltiges Kriegsszenario im Sinne eines überlegt kalkulierten politischen Planspiels vor.

Die von Wells in propagandistischer Absicht entworfene Kriegskonstellation ist Gradmesser der zunehmend negativen Beurteilung deutscher Politik in Großbritannien. Wells zeichnet Deutschland als einen von den Eroberungs- und Prestigegelüsten der Hohenzollern beherrschten, bis an die Zähne bewaffneten Staat, der seine zielstrebig verfolgten Welteroberungspläne mit Hilfe seiner am weitesten entwickelten riesigen Luftstreitmacht zu verwirklichen sucht. Diese Aggressivität verkörpert am augenscheinlichsten der mit Nietzscheschen Zügen ausgestattete und ständig Bismarcks Wort von "Blut und Eisen" im Munde führende Prinz Karl Albert, in dem Wells das Sendungsbewußtsein Wilhelms II. ironisiert. Über diese negative Sympathielenkung betreibt der mit tendenziösen Effekten nicht geizende Autor die prophylaktische Stigmatisierung des Deutschen Reiches als eines möglichen, ja wahrscheinlichen Kriegsgegners. Durch die Verbreitung solcher stereotyper Feindbilder wurde die Vorstellung von deutsch-englischer Gegnerschaft zementiert, so daß der tatsächliche Kriegsausbruch 1914 trotz seines Überraschungsmoments in gewisser Weise nur propagandistisch wirksame literarische Fixierungen bestätigte.

Die sich schon in der ersten Marokko-Krise bei den Verhandlungen auf der Konferenz von Algeciras (1906) abzeichnende Gegnerschaft Englands und Frankreichs zum Deutschen Reich baut Wells nach den bündnisähnlichen, später durch Militärkonventionen ergänzten, aber der britischen Öffentlichkeit in ihrer vollen Tragweite vorenthaltenen Vereinbarungen von 1904 (Entente cordiale) gewissermaßen als feststehende Gegebenheit in seine politisch-militärische Versuchsanordnung ein. Auch der 1907 erreichte Interessenausgleich zwischen Großbritannien und Rußland wird als komplementärer Faktor (Tripelentente) in Rechnung gestellt. Dementsprechend richtet nach dem Erstschlag gegen New York eine zweite deutsche Luftflotte ihr Angriffsziel auf London, Paris und Sankt Petersburg aus. Insoweit zieht Wells in "The War in the Air" lediglich die militärischen Konsequenzen aus dem Deutschland beengenden diplomatischen Status quo.

Der Roman ist aber auch zeitgeschichtliches Barometer, wenn sein Autor die Möglichkeiten weiterer britischer Bündnisoptionen auslotet. So läßt der mittlerweile Kontakt zu den herrschenden Klassen haltende und informationsmäßig gut vernetzte Wells bei Ausbruch der europäischen Kampfhandlungen Italien, das nur noch formell als Mitglied des Dreibundes zu betrachten war, Deutschland den Krieg erklären. Literatur ist hier nicht nur Spiegel des Faktischen, sondern formuliert ein politisches Desiderat, wie die Erwähnung Roms als Zielscheibe deutscher Luftangriffe unterstreicht.

Die primäre politische Botschaft aber transportiert buchstäblich wie metaphorisch die gewaltige deutsche Luftflotte, die die schlecht vorbereiteten und ganz dem Handel hingegebenen Vereinigten Staaten angreift. Amerika ist der eigentliche Adressat von Wells' militärisch-politischer Blaupause. Wells' Kriegsspiel gibt sich so als Projektionsfläche weitsichtiger nationaler Politikplanung zu erkennen. Indem er den dem europäischen Bewußtsein schon vorschwebenden großen Krieg sogleich als Weltkrieg inszeniert, zielt Wells frühzeitig auf die Notwendigkeit transatlantischer Partnerschaft ab. Dabei handelt es sich nicht um die bloße Extrapolation einer bereits durch praktische Ansätze markierten politischen Linie, sondern um die diskursive Anbahnung und propagandistische Vorbereitung einer erst erheblich später realisierbaren Weichenstellung. Im Sinne der Sensibilisierung der Vereinigten Staaten für das von Deutschland ausgehende Gefahrenpotential läßt Wells den von einem einheitlichen Machtstreben durchdrungenen potentiellen Gegner, der dank seiner naturwissenschaftlich-technischen Kompetenz als Muster an efficiency (Tüchtigkeit) zu gelten habe, die Monroe-Doktrin zurückweisen und unterstellt ihm Expansionsbestrebungen in Südamerika.

Wells, der erst kurz zuvor in "The Future in America" (1906) seinen Blick auf die Vereinigten Staaten gerichtet hatte, ist einer der publizistischen Protagonisten in dem beharrlichen britischen Buhlen um die politische Gunst der zukunftsmächtigen Vereinigten Staaten. Den Hebel dazu bildet die Strategie, die Aufmerksamkeit dieses Landes auf die vermeintlich von Deutschland drohenden Gefahren zu lenken. Wells folgt damit einer in der britischen Presse schon früh vorgezeichneten Linie; bereits um die Jahrhundertwende hatten konservativ-imperialistische Blätter wie die Times, die Morning Post, der Spectator und die National Review den Vereinigten Staaten das Deutsche Reich als Bedrohung hinzustellen versucht.

Wells' Spürsinn erschöpft sich aber nicht in dem Entwurf der als Resonanzboden britischer Interessen dienenden internationalen Konfliktsituation. Als glänzender Futurologe erweist er sich auch mit der Festlegung der Dauer des vorausgeahnten Krieges auf fünf Jahre. Da er zugleich ahnt, daß dieser Krieg einen unerhörten Niedergang für die europäische Zivilisation zur Folge haben wird, warnt er im Epilog mit bis dahin unbekannter Eindringlichkeit vor der ihre Schatten vorauswerfenden Katastrophe.

"The War in the Air" ist weit mehr als ein Zukunftsbild militärischer Entwicklungen. Dieser Roman ist vor allem ein literarisches Manifest des politischen Instinkts einer in globalen Kategorien denkenden Nation. Er gibt Aufschluß über die Richtung des langfristig betriebenen politischen Willensbildungsprozesses in England. Dafür kann zeitgeschichtlich transparente Literatur unter Umständen aussagekräftiger sein als konventionelle Quellen wie die einer diskreten diskursiven Praxis verpflichteten diplomatischen Dokumente. In der Absicht, isolationistische Einstellungen in den Vereinigten Staaten mental aufzubrechen, hat Wells "The War in the Air" als Forum zur Beförderung britisch-amerikanischer Solidarität, als Plattform für transatlantische Konsensbildung konzipiert.

Als politisches Stimmungsbarometer Englands belegt "The War in the Air" in faszinierender Weise die Funktion, die Literatur als publizistischer Katalysator im politischen Meinungsbildungsprozeß einer sich über öffentliche Debattenkultur verständigenden Nation zu übernehmen vermochte. Wells' Armageddon ist politische Antizipation großen Stils.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.

Foto: Skizze eines Duells über den Wolken (CNP): Stigmatisierung des Deutschen Reiches

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