© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/08 25. Juli / 01. August 2008

Die Fehlgeburt einer Epoche
Sönke Neitzel trägt seine Analysen zum Ersten Weltkrieg der Buchreihe "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert" bei
Heinz Fröhlich

Der Mainzer Historiker Sönke Neitzel resümiert die wichtigsten Kenntnisse über den Ersten Weltkrieg; allzu viele Neuigkeiten darf der Leser nicht erwarten. Noch bearbeiten deutsche Historiker selten Archivalien ehemaliger Ententemächte.

Technik und Industrie bestimmten diesen Krieg und vollendeten einen Prozeß, der 1789 begonnen habe. Die Jahre 1914 und 1918 markieren die "Urkatastrophe" unserer Epoche, und die fragile Friedensordnung danach habe "die Saat für einen noch schrecklicheren Krieg der Ideologien gesät". Die Niederungen des Kriegsverlaufs mit dem Grauen der Materialschlachten läßt er zugunsten von Zahlen und Tabellen eher unberücksichtigt. Die Hürde der leidenschaftlich diskutierten Kriegsschuldfrage umsteuert Neitzel. Er argumentiert "diagonal" und eckt somit vermutlich selbst bei der wissenschaftlich überholten Fischer-Schule wenig an. Einerseits betont der Autor das "Prestigestreben" des Deutschen Reiches und beklagt russischen Expansionismus. Gleichzeitig hätten sich französische und britische Politiker geweigert, Deutschland als ebenbürtige Weltmacht zu respektieren. 1914 verfolgte die Reichsleitung während der Julikrise das doppelte Ziel, entweder die Entente diplomatisch zu schwächen oder einen Kampf zu wagen. Auch oft verschwiegene Kriegsziele der Alliierten stellt Neitzel dar. Die Großmacht Deutschland sollte von der Bühne abtreten. Manche Franzosen begehrten außer Elsaß-Lothringen die Rheingrenze, gedachten gar Deutschland aufzulösen.

Deutsche Wirtschaftskraft zu mindern, erstrebte Großbritannien, das bereits 1916 plante, einen "Krieg nach dem Krieg" zu führen und die Rohstoffversorgung des Gegners zu lähmen. Jedoch bevorzugte Washington offene Märkte. Letztlich war es der Uneinigkeit der Sieger zu danken, daß der Versailler Vertrag nicht noch härter ausfiel. Die "expansionistischen" Ziele des panslawistischen Rußlands werden nur unzureichend behandelt.

Neitzel betont die wenig ernsthaften diplomatischen Vorstöße Bethmann Hollwegs, des Auswärtigen Amtes und ab 1916 Ludendorffs und Hindenburgs jenseits eines "Siegfriedens". Belgien wollten sie zum Vasallenstaat herabdrücken und Osteuropa wirtschaftlich beherrschen. Die "Oberste Heeresleitung" mißachtete jedes politische Kalkül und erklärte den "uneingeschränkten U-Boot-Krieg", der die kriegerische Eskalation gegen die USA bedeutete. Das Reich nutzte 1917 nicht die russische Niederlage, um dem Zweifrontenkrieg zu entrinnen, sondern diktierte in Brest-Litowsk einen karthagischen Frieden. Sechzig deutsche Divisionen blieben östlich der Reichsgrenze stationiert. Noch im September 1918 ließ die OHL den Kaukasus besetzen.

 

Sönke Neitzel: Weltkrieg und Revolution 1914-1918/19. Bebra Verlag, Berlin 2008, gebunden, 204 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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