© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/08 25. Juli / 01. August 2008

Allein gegen die Stasi: Vier Jahre Fahndung nach dem freien Wort
Das teuerste Flugblatt der Welt
Christian Dorn

Unter dem Motto "Die letzte Schlacht gewinnen wir" hatten Anfang Mai die Gralshüter der linken Gesellschaftsutopie in der Humboldt-Universität Berlin einen Kongreß veranstaltet, durch den sie ihren Anspruch auf das revolutionäre Erbe des Jahres 1968 bekräftigen wollten. Relativ offen propagierten sie, das bestehende Gesellschaftssystem überwinden zu wollen, und warben mit den Ikonen ihrer Ideologie, etwa Lenin, der zehn Millionen Menschen "für die gute Sache" geopfert hatte (JF 20/08). In einer spektakulären Aktion hatte die "Konservativ-subversive Aktion" gegen die Veranstaltung protestiert, via Megaphon sowie mit Plakaten und Fluglättern ( www.ungebeten.de ). Die Provokation wurde - gerade durch die Medien - öffentlich, indes sind repressive Maßnahmen von staatlicher Seite heute undenkbar.

Wie anders damals, als das sozialistische Gesellschaftsexperiment namens DDR mit Gewalt aufrechterhalten wurde. Im Unterschied zu Westeuropa, wo "'68" eine Studentenrevolte stattfand, stammten die Träger des Protests in der DDR im wesentlichen aus der Arbeiterschaft, weniger als zehn Prozent kamen aus dem studentischen Milieu. Zu ihnen zählten die Physikstudenten Michael Müller und Rainer Schottlaender.

Im Gegensatz zu den "antiautoritären Jungrebellen" des Westens ersehnten sie die bürgerlichen Freiheiten, etwa das Recht der freien Rede, während erstere ebendiese als "reformistische Verblendung" verhöhnten. Untrennbar verknüpft war damit in der DDR der Glaube an den von Alexander Dubcek proklamierten "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", in dem sich die ostdeutsche Version von "'68" manifestierte. So beschreibt es der Historiker Stefan Wolle in seinem beeindruckenden Gesellschaftspanorama "Der Traum von der Revolte: Die DDR 1968" (Ch. Links Verlag, Berlin 2008). Seinen Ergebnissen zufolge wurden damals, wegen der Proteste gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, über 1.400 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Zu den nicht aufgeklärten Fällen zählten die beiden Studenten Müller und Schottlaender. Die waren in jenem Sommer mit dem Fahrrad nach Prag gefahren und hatten die Stadt in der Nacht zum 21. August erreicht, zeitgleich mit den einrückenden sowjetischen Truppen. Über sich hörten sie am nächsten Morgen Schüsse peitschen, neben sich sahen sie Tote und Verletzte. Zurück an der Humboldt-Universität, so Müller, wollten sie ihre innere Spannung "in etwas Konstruktives umsetzen".

Heimlich produzierten sie Flugblätter, mit denen sie zum Boykott der obligatorischen "Marxismus-Leninismus"-Vorlesungen aufriefen. Damit, so Schottlaender, hatten wir "das System ins Herz getroffen". In der Tat: Die Staatssicherheit löste daraufhin eine der teuersten und aufwendigsten Fahndungsaktionen ihrer Geschichte aus - vergeblich, da die Täter nie gefaßt wurden.

Von Herbst 1969 bis März 1970 hatten die beiden Physikstudenten mehrfach Flugblätter gegen das Fach "Gesellschaftswissenschaften" ausgelegt, in denen sie die "Beseitigung dieser dogmatischen Lehrform" forderten. Als der Widerhall in der Studentenschaft ausblieb und das Risiko unkalkulierbar geworden war, stellten die zwei ihre Aktion ein - sie hätten mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis rechnen müssen.

Ganz anders der Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit. Der sah in dem Flugblatt die Vorbereitung eines Generalangriffs, vergleichbar dem Vorabend des 17. Juni 1953 oder dem 13. August 1961 - und zeigte, im Abstand der Geschichte, nur die Dimension seiner Paranoia. So traf sich am Heiligabend des Jahres 1969 das MfS zu einer Krisensitzung, um das Ermittlungsverfahren in einen "operativen Vorgang" zu verwandeln, Name: "Aufwiegler". In dessen Folge wurde die DDR vier Jahre lang auf den Kopf gestellt. Mehrseitige Maßnahmenpläne setzten Hunderte hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter in Bewegung. Neuntausend Studenten der Humboldt-Universität mußten zu persönlichen Aussprachen erscheinen und ihre ideologische Standfestigkeit beweisen. 1,3 Millionen Personalausweisanträge wurden auf Typengleichheit untersucht, war doch in der DDR jeder Kauf einer Schreibmaschine registrierpflichtig. Erst im Frühjahr 1973 stellte der MfS-Apparat seinen Vorgang ein.

Für den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk demonstriert diese "totale Verschwendung" von materiellen Mitteln, "wie bedroht das System sich allein von einem freien Wort sah", und das "ganz zu Recht". Wie monströs diese Geschichte war, zeigt jetzt die Dokumentation (Mi., 30. Juli, 21.55 Uhr, Arte) von Gabriele Denecke. christian dorn

Foto: Aufruf zum Boykott der ML-Vorlesungen: Die Urheber der Flugblattaktion (nachgestellte Szene)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen