© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/08 25. Juli / 01. August 2008

Etappensieg für die Vernunft
Nach dem Wettbewerb ist vor der Debatte: Viel zu spät wird jetzt über die Berliner Lindenoper diskutiert
Jens Knorr

Der Bürgermeister und Kultursenator hat sich sachkundig gemacht, sein Fähnchen in den Wind gehängt und entschieden: Der Siegerentwurf des von der Senatsbaudirektion ausgeschriebenen Wettbewerbs für den Richard-Paulick-Saal der Lindenoper wird nicht realisiert, der Architekt Klaus Roth bekommt sein Preisgeld ausgezahlt, die Generalplanung für die Sanierung des Gebäudes wird neu ausgeschrieben.

Die Rechnung der Senatsbaudirektorin, Regula Lüscher, war nicht aufgegangen, durch Ankopplung der Generalplanung an die Gestaltung des Paulick-Saals diesen elegant und an Landesdenkmalamt und Öffentlichkeit vorbei entsorgen lassen zu können. Aber auch die Rechnung des Unternehmers und Vorsitzenden des Fördervereins der Staatsoper, Peter Dussmann, war nicht aufgegangen, Stuck gegen Beton auszuspielen, klassizistischen Rokoko gegen Moderne. (Seine Androhung, die zugesagten 30 Millionen Euro Spendengelder nicht aufbringen zu wollen, würde der Paulick-Saal zerstört, dürfte die politische Entscheidung allerdings befördert haben.)

Kulturstaatssekretär André Schmitz handelte nicht auf Rechnung, als er sich öffentlich den roßtäuscherischen Propagandisten für den Neubau entgegenstellte, die sich als heutig und morgig gegenüber den ach so gestrigen Verteidigern des Paulick-Saals gerierten, und die richtige Entscheidung seines Dienstherrn weniger aus politischem Kalkül, denn vielmehr aus Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorbereitete.

Da hatte kein "dünkelhaftes Kulturbündnis des alten West-Berlin (...) unverhohlen mit einer nostalgisch verklärenden Ost-Bourgeoisie" koaliert, keine "unheilige Allianz von Ewiggestrigen der PDS und CDU" hatte sich zusammengefunden, wie Feuilletonisten in Frankfurter Rundschau oder Berliner tageszeitung raunten, da hatte sich vielmehr eine Allianz derer geschmiedet, die politisches Lagerdenken der Sache wegen hinter sich zu lassen gewillt waren und sich öffentlich zu diskutieren erlaubten, was geändert werden müsse, damit das Bewahrenswerte bewahrt werden kann, und was bleiben, damit es Neues aus sich entließe. Man nennt sie Konservative.

Drei Probleme hätte der als modern deklarierte Neubau, so er denn gebaut worden wäre, laut seinen Verfechtern, informierten als auch uninformierten, zufriedenstellend lösen sollen: das Problem der Akustik, das der Sichtverhältnisse und das des Verhältnisses von Theatervorgang und Theaterraum. Aber hätte er sie überhaupt lösen können?

Das akustische Hauptproblem des Paulick-Saales ist, genau behört, eines der Nachhallzeit, die nach der umfassenden Rekonstruktion des Hauses von 1983 bis 1986 bei unbesetztem Saal etwa 1,35 Sekunden beträgt, also im oberen Bereich der für Opernsäle erwünschten Spanne liegt. Eine kurze Nachhallzeit sorgt für gute Durchhörbarkeit des Orchesters und Verständlichkeit der Sänger, eine längere Nachhallzeit für einen gerundeten, weichen Klangeindruck. Erstere ist ideal für die italienische Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, für die Opern Mozarts und der Moderne, letztere für die spätromantische Oper erstere für Spaltklang, letztere für Mischklang. Diesen favorisiert der künstlerische Leiter und Generalmusikdirektor der Lindenoper, Daniel Barenboim, und dessen Geschmack trägt die 1996 auf sein Betreiben eingerichtete elektroakustische Nachhallverlängerungsanlage Rechnung, die - Achtung! - lediglich den Nachhall bearbeitet, jedoch nicht den Direktschall von Orchester oder Sängern elektronisch verstärkt. Um eine längere Nachhallzeit auf natürlichem Wege zu erreichen, wäre das Raumvolumen zu vergrößern, was beispielsweise durch Erhöhung der Saaldecke und durch schalltechnische Ankoppelung des Dachraums geschehen könnte.

Wie innerhalb der Ausschreibungsfrist am Entwurf von Klaus Roth alle notwendigen akustischen Messungen seriös vorgenommen worden sein sollen, erscheint nicht nur dem Schriftsteller Friedrich Dieckmann, kompetenter und wortmächtiger Streiter für den Paulick-Saal, rätselhaft. Nach Tisch sind auch von Daniel Barenboim verbindlichere Töne zu vernehmen, und zwar in einem Interview, das er dem Tagesspiegel gegeben hatte: "Pierre Boulez sagt immer, Akustik ist wie die Wettervorhersage: Man analysiert und prognostiziert - und dann kommt es doch ganz anders. Die Analyse aber muß stimmen, das Bemühen, es so gut zu machen wie irgend möglich. Und der Denkmalschutz darf nicht im engen Sinne ausgelegt werden." Der Neubau des Saales, sein Gelingen angenommen, hätte dem "momentanen akustischen Zeitgeschmack" (André Schmitz) Rechnung getragen. Der aber ändert sich mit den Zeiten.

Auch die eingeschränkte Sicht vieler - übrigens gar nicht so vieler - Plätze auf die Bühne ließe sich durch einige kluge bedachtsame Eingriffe in den Paulick-Saal lindern, wenn nicht sogar beheben, vielleicht durch Versetzung der Proszeniumslogen nach außen, womit zugleich Bühnenausschnitt und Orchestergraben erweitert werden könnten, der sich für einige Werke in Großbesetzung, etwa von Richard Strauss, als zu klein erwiesen hat. Der Roth-Entwurf behebt zwar alle Sichtprobleme, weiß aber auf die Frage, die einzig einen Neubau rechtfertigen würde, die Frage nämlich nach einem neuen Verhältnis von Konsumenten und Produzenten und nach neuen Produktionsweisen im Musiktheater, keine Antwort zu geben. In seiner kuriosen Kreuzung aus Bayreuther Parkett, französischem Rangtheater und friderizianisierendem Apollosaal sieht er gegen das Saalensemble von Richard Paulick ziemlich altbacken aus.

Ein Sieg wurde errungen, ein Sieg nicht für die eine oder die andere Seite, sondern für die Hauptstadt und ihr Opernhaus - ein Etappensieg. Die Diskussion um Rekonstruktion und Fortschreibung des Paulick-Saals beginnt jetzt.

Foto: Blick in den sogenannten Paulick-Saal der Staatsoper Unter den Linden: Bewahrenswert

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