© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/08 08. August 2008

Eine schicksalhafte Woche
Türkei: Der folgenschwerste Terroranschlag in Istanbul seit fünf Jahren wirft viele Fragen auf / Machtwechsel beim Militär und "Ergenekon"-Anklagen
Günther Deschner

Beim folgenschwersten Terroranschlag in Istanbul seit fünf Jahren sind am letzten Juli-Wochenende 17 Personen getötet und über 150 verletzt worden. Die Sprengsätze waren im Güngören-Viertel im europäischen Teil der Stadt deponiert. Die meisten Opfer gab es, als viele Menschen nach der ersten Explosion den Opfern Hilfe leisten wollten und einige Zeit später eine zweite Explosion folgte, die wesentlich stärker war.

In einer schicksalhaften Woche der türkischen Republik bergen die Istanbuler Explosionen auch politischen Sprengstoff: Das Verbotsverfahren des Verfassungsgerichts gegen die Regierungspartei AKP stand vor dem Abschluß. Wechselstimmung herrscht auch beim Militär. Auch dort sorgt man sich um die Zukunft als der relevante politische Akteur des Türkenstaats. Bei einem Drittel des Offizierskorps fallen Personalentscheidungen. Auf die Position des Generalstabschefs, des traditionell mächtigsten Mannes der Türkei, rückt der bisherige Heereschef General İlker Başbuğ vor. Der 65jährige ist pointierter Kemalist, AKP-Kritiker und Kurdenfeind, er gilt aber als gewandter und auch undurchsichtiger als sein Vorgänger Yaşar Büyükanıt.

Sorgenvoll wird in Ankara auch beobachtet, ob jene jüngeren Offiziere, denen man seit dem AKP-Wahlsieg Putschgedanken nachsagt, in der militärischen Hierarchie nach oben rücken. Die Militärs fühlen sich von der Regierung an die Wand gedrängt, spätestens seit Ermittlungen gegen den "Ergenekon"-Geheimbund aufgenommen worden sind (JF 29/08). Damit müssen sich just in dem Land, in dem das Militär bislang vier Regierungen stürzte, erstmals Angeklagte wegen geplanter Putschversuche vor Gericht verantworten. Drei pensionierte Generäle sind unter den Angeklagten, denen ein Plan vorgeworfen wird, durch Terror und Gewalt auf den Straßen Chaos zu erzeugen, um dem Militär einen Vorwand zu liefern, die Regierung zu stürzen.

All diese Fakten stellen den jüngsten Anschlag in Istanbul unter viele Fragezeichen. Sachkenner bezweifeln, daß die kurdische PKK ihre Taktik geändert hat, Anschläge nur gegen militärische, wirtschaftliche und symbolhafte Ziele, nicht aber gegen unschuldige Unbeteiligte zu richten. Kühl kalkulierten Massenmord an Unschuldigen meidet die PKK schon deswegen, weil sie zwar Stärke zeigen, aber gleichzeitig demonstrieren will, daß sie keine Terrorgruppe, sondern eine kurdische Rebellenarmee ist. Allenfalls könnten Auflösungs- und Abspaltungserscheinungen einer Rebellenbewegung, die ihre Perspektive verloren hat, eine Erklärung für kurdische Täter sein.

Vielleicht stecken aber auch - wie bei der Anschlagserie von 2003 - islamistische Terroristen dahinter? Die türkische Wirtschaftsmetropole wurden damals von Selbstmordattentaten auf zwei Synagogen, das britische Konsulat und auf eine britische Bank erschüttert. 57 Personen kamen ums Leben. Oder hat gar "Ergenekon" Regie geführt und damit demonstriert, daß man trotz des laufenden Prozesses noch handlungsfähig ist? Sind die acht Jugendlichen, die im Zusammenhang mit den Anschlägen festgenommen worden sind und denen die Mitgliedschaft in der verbotenen PKK vorgeworfen wird, gar nicht die Bombenleger? Oder wenn doch, sind die eigentlichen Drahtzieher unter diesen selbsternannten Hütern der Republik zu suchen, dem vielzitierten "tiefen Staat", der sich in "Ergenekon" sein Instrument des Handelns geschaffen hat?

Nach Einschätzung von BND-Chef Ernst Uhrlau sind die kurdischen Separatisten nicht für die Terroranschläge verantwortlich. "Das Attentat paßt nur schwer zur PKK. Sowohl die Technik des Anschlags als auch Ort und Zeit deuten eher auf einen islamistischen oder auf einen innertürkischen Hintergrund", zitierte ihn die Bild. Ein anderer BND-Mitarbeiter fühlte sich an die vorschnellen Schuldzuweisungen der konservativen Aznar-Regierung nach den al-Qaida-Massakern in Madrid im März 2003 erinnert, als man wahltaktisch die verhaßte Eta verantwortlich machte.

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