© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/08 08. August 2008

Blitze zucken hier und da
Nachruf: Alexander Solschenizyn gab dem Leid eine Stimme, die durch die Zeiten tönt
Günter Zehm

Ein stolzes Leben, wie es Gott gefällt. Alexander Issajewitsch Solschenizyn, der letzten Sonntag im neunzigsten Lebensjahr verstorbene russische Schriftsteller, brauchte sich keiner Minute seiner bewußten Existenz zu schämen. Er mochte irren hier und da, er mochte manchmal ungeduldig werden, aber seine Sprache und sein künstlerisches Ingenium blieben stets rein und unantastbar.

Als ihm 1970 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, konnte er es nicht wagen, die Auszeichnung persönlich in Stockholm entgegenzunehmen; die in Moskau herrschenden Sowjets hätten ihn vielleicht ausreisen lassen, die Rückkehr in die Heimat wäre ihm aber mit Sicherheit verwehrt worden. So schickte Alexander Issajewitsch  - auf geheimen, verschlungenen Pfaden - eine Dankesrede, und darin stand der lapidare Satz: "Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt."

Darin war nicht die geringste Anmaßung, Solschenizyn sprach aus purer Erfahrung. Sein Buch "Archipel Gulag", erschienen im Westen, erschütterte buchstäblich den Erdkreis, veränderte globusweit und ein für allemal das intellektuelle Klima, wirkte mit Urgewalt auf das wankende Sowjetregime ein. Und die Art und Weise, wie der Autor dieses Riesenwerk direkt unter den Augen des KGB geschrieben und es vor den Zugriffen der Häscher und vor der Vernichtung gerettet hatte, war (und ist nach wie vor) ein einzigartiges Lehrstück über die Macht des Wortes und seiner Urheber, wenn diese nur mutig und kaltblütig zu ihm stehen.

Schon das Sammeln und Erinnern des schier uferlosen dokumentarischen Materials  unter widrigsten Umständen erscheint heute wie ein Wunder. Denn keine Bibliothek, kein Archiv stand Solschenizyn zur Verfügung, alles war sekretiert und kriminalisiert, mußte - statt im Computer - im Kopf gespeichert werden oder auf Zetteln, die jederzeit einer Haussuchung zum Opfer fallen konnten und die deshalb in doppelter und dreifacher Ausfertigung zu erstellen und sofort zu diversifizieren, an verschiedenen Stellen zu verstecken und zu vergraben waren.

Natürlich konnte ein einzelner das nicht allein bewältigen, Solschenizyn mußte eine - selbstverständlich illegale, ständig aufs höchste bedrohte - eigene Organisation aus Korrespondenten, Kurieren und Vervielfältigern schaffen, mußte die Loyalität und Standfestigkeit der Mitarbeiter bei zu erwartenden Verhören und Folterungen testen, unsichere Kantonisten und bloße Schwätzer abwehren. Ferner mußte die hermetische Abschottung gegenüber dem Ausland unterlaufen werden: Es galt, Manuskripte über die Grenze zu schmuggeln und sie bei verläßlichen Instanzen zu deponieren, es galt, den Mut (oder die Feigheit) westlicher Medienvertreter, die man zum Meinungstransfer benutzen wollte, genau einzuschätzen.

Angesichts all dieser Organisationsarbeit war es ein weiteres, ein schier unbegreifliches Wunder, daß Solschenizyn daneben überhaupt zum Schreiben kam und daß ihm gerade damals, beim Abfassen des "Archipel Gulag", Texte von herrlicher Konsistenz gelangen, daß die Botschaft vom Leid der Gulag-Bewohner und ihrer letztendlichen Siegesgewißheit mit welterschütternder Anschaulichkeit  überkommen konnte.

Als der Schriftsteller dann im Westen war, unter schnödesten Umständen aus dem Vaterland verjagt, änderte sich das nicht. Auch hier gab es ein bewundernswertes Zusammenspiel von großem dichterischem Schaffen und genau ausgetüftelter Organisation, mit der ehernen Zielvorgabe, sich selbst mit höchster Effizienz in die Arbeit am Untergang des Kommunismus und am Aufbau eines freien Rußland und einer freien russischen Literatur einzubringen.

Während Schriftsteller gewöhnlich über die angebliche Unveränderbarkeit der Welt durch Literatur klagen, lieferte Solschenizyn ein machtvolles Beispiel dafür, wie tief Literatur tatsächlich auf Politik und Staatsläufte und Weltläufte einwirken kann - wenn sie sich nur mit ernsthaftem Tat- und Organisationswillen verbindet. Nötig ist freilich auch ein unverstellter Blick für die Realitäten, aber den hatte Solschenizyn ja nicht minder als Ingenium und Organisationstalent.

"In zwanzig Jahren", konstatierte er 1974 nach seiner Ausweisung, "gibt es die Sowjetunion nicht mehr, und ich werde in ein postkommunistisches Rußland zurückkehren." Die Feinde kicherten höhnisch; Solschenizyn aber bereitete sich gelassen und sorgfältig auf den Tag X vor. Diesem Großbauernsohn mit kosakischen Vorfahren aus dem nordkaukasischen Kislowodsk konnte man schon früh nichts vormachen. Er studierte mit voller jugendlicher Absicht  Mathematik, obwohl es ihn von Anfang an zur Literatur zog. Er wollte sich keinen Illusionen hingeben.

Im Zweiten Weltkrieg war er Offizier und Batteriechef mit dauerndem Front­einsatz, er sah den strategischen Pfusch der Stalinschen Armeeführung in der ersten Phase des Krieges, er sah die sowjetischen Greuel beim Einmarsch in Ostpreußen während der Schlußphase, und er schrieb darüber an Vertraute, ohne hinreichend an die "tausend Augen und Ohren" (Brecht) der Partei zu denken. Das, so bekannte er später achselzuckend, sei der große Fehler seiner Jugend gewesen. Er brachte ihm acht Jahre "verschärfte Lagerhaft" ein, mit "anschließender ewiger Verbannung" nach Kasachstan.

Im Lager "verbrauchte" man ihn aber nicht bis zum Tode in sibirischen Bergwerken oder beim Holzfällen in eisiger Polarkreiskälte, sondern sperrte ihn, weil er Mathematiker war, für die längste Zeit in ein sogenanntes  "Technikerkommando" (Scharaschka), wo unter Sklavenbedingungen für die Rüstungsindustrie gearbeitet wurde. Die Mathematik rettete Solschenizyn wahrscheinlich das Leben. Doch die Liebe zur Literatur ließ ihn zum unsterblichen Zeugen des großen Terrors und zum "Tolstoi des zwanzigsten Jahrhunderts" werden, wie Wladimir Maximow einmal gesagt hat.

Während seiner Zeit als Verbannter und Mathematiklehrer in Kasachstan begann Solschenizyn zu schreiben, und während des Chruschtschowschen "Tauwetters" wurde in Moskau mit Erlaubnis der Zensur seine erste Lagererzählung gedruckt, "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". Der Erfolg beim Publikum und bei der Kritik war ungeheuer. Die Übersetzer überschlugen sich. Monatelang sprach man rund um den Globus von nichts anderem als von "Iwan Denissowitsch".

Selbstverständlich bedeutete das Erscheinen der Novelle in erster Linie ein politisches Ereignis: Zum ersten Mal wurde der Schleier über dem grausamen, riesig ausgedehnten Lager- und Sklavensystem des Kommunismus gewissermaßen halboffiziell gelüftet. Indes, die allgemeine Erschütterung wäre nicht halb so stark gewesen, wenn Solschenizyns Text nicht jene durchschlagenden literarischen Tugenden gehabt hätte, die dann auch die folgenden Werke dieses Autor auszeichneten.

Kunst und Wahrheit gehen in ihnen eine unvergleichliche Synthese ein. Meisterliche Lakonie vermählt sich mit langem epischen Atem. Unterschichten-Slang, totalitärer "Neusprech" und moderne Fachjargons werden ironisch gebrochen und mit der originalen Textur der russischen Sprache konfrontiert. Historische Figuren erscheinen in überraschendem Licht, Blitze zucken hier und da, alles wartet darauf, daß das Gewölk endgültig herbeizieht und ein machtvolles, reinigendes Regengewitter losbricht, das Wüsten düngt und lange ausgetrocknete Reservoire wieder auffüllt.

Dieser Duktus der Erwartung und der belehrten Hoffnung prägt das Schaffen Solschenizyns insgesamt. Er waltet nicht nur im "Archipel Gulag" und in den großartigen autobiographisch bzw. familiär gefärbten Lager- und Bauernerzählungen, er flimmert auch wie ein Stern über der gewaltigen Revolutionsepopöe "Das rote Rad" und nicht zuletzt über seinen politischen und historischen Essays, über der "Russischen Frage" von 1990 etwa, die sich inzwischen als außerordentlich hellsichtig erwiesen hat, oder über dem neueren zweibändigen Groß­essay "Zweihundert Jahre zusammen", wo es um das Verhältnis zwischen Russen und Juden geht.

Seinen zwanzigjährigen Aufenthalt im Ausland zwischen 1974 und 1994, zuerst in der Schweiz, ab 1977 auf einer Farm im US-Staat Vermont, hat Solschenizyn immer als das begriffen, was er auch wirklich war: als ein von feindlichen Kräften auferlegtes Exil, das es so bald wie möglich zu beenden galt. Westliche Imperialisten und Vereinnahmungsspezialisten mußten lernen, daß hier einer war, der sich weder geistig unterjochen noch "zivil" vereinnahmen ließ. Hier redete und schrieb vielmehr ein selbstbewußter russischer Patriot und Nachdenker, der sich die Freiheit nahm, über alle wichtigen Fragen eine eigene Meinung zu haben und diese auch präzise und wirkkräftig unter die Leute zu bringen.

Er glaubte an den christlichen Gott der Gnade und der Erlösung, liebte inniglich die machtvoll-geheimnisvollen Gesänge in den orthodoxen Kathedralen und war sehr beeindruckt von der "direkten Demokratie" nach Schweizer, genauer: Appenzeller Art. Er mißtraute allen mit vollmundigen Parolen abgefüllten Parteipolitikern jeglicher Couleur und dachte bis in seine letzten Tage über spontanere, besser mit dem Leben verbundene Demokratieformen nach. In der Erinnerung bleiben aber wird er als jener Sprachmeister, der dem unermeßlichen Leid der Lagerhäftlinge des zwanzigsten Jahrhunderts eine Stimme gegeben hat, welche durch die Zeiten tönt.                           

Foto: Alexander Solschenizyn (1918-2008), aufgenommen am 10. Juli 1994: "Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt"

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