© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

Akkorde mit unschönen Harmonien
Jonathan Carrs lesenswerte Studie über die Familie Richard Wagners bis in die Gegenwart
Wiebke Dethlefs

Um es vorweg zu sagen: Selten kann ein Buch solches Lesevergnügen bereiten wie dieses. Was Carr geschrieben hat, ist ein Genuß. Dieses kulturhistorisch-musikalische Zeitbild zweier Jahrhunderte reiht sich würdig in die Folge der großen, erratischen (Richard und Siegfried-)Wagner-Monographien eines Martin Gregor-Dellin, eines Joachim Köhler oder Peter P. Pachl ein. Doch es wurde auch zum Schwanengesang seines Autors. Jonathan Carr, der glänzende britisch-deutsche Schriftsteller und Biograph so grundverschiedener Naturen wie Helmut Schmidt und Gustav Mahler, der dreißig Jahre lang Auslandskorrespondent der Financial Times war, verstarb an seinem Wohnsitz Königswinter überraschend am 12. Juni 2008 mit nur 66 Jahren, zwei Tage nach der deutschen Erstveröffentlichung seines 2007 bei Faber & Faber in englischer Sprache erstmals publizierten Buchs.

Wer als Autor an eine chronikähnliche Darstellung der Wagner-Familie herangehen will, wird konstatieren müssen, daß die seit Richard Wagners Geburt verflossenen 200 Jahre durch bloße drei Künstlergenerationen geprägt wurden (sieht man von der allerneuesten Epoche ab). Denn Enkel Wolfgang, wenngleich deutlich vom Alter geschwächt, zeichnete bis in die jüngste Vergangenheit für die Wagner-Geschichte verantwortlich.

Über die erste Epoche, die allgemein bekannte Richard-und-Cosima-Zeit, erfährt man nicht allzuviel Neues (zumindest bis 1883), doch zeigt sich in der breiten Würdigung der Protagonisten der zweiten Generation, wie sehr Carr die Person Siegfried Wagners und dessen direktes Umfeld am Herzen liegt. Carr ist vielleicht neben Peter P. Pachl der einzige Wagner-Biograph, der Siegfried und besonders seinem Werk die wohlverdiente, leider ansonsten kaum ihm zugesprochene Anerkennung zollt. Siegfrieds plötzlichen Tod 1930 im Alter von 61 Jahren interpretiert Carr als Folge nicht nur künstlerischer Überarbeitung, sondern auch als Ergebnis chronischer psychischer Zerrissenheit, in die ihn seine der Umgebung sorgfältig verheimlichte Homosexualität führte. Houston Stewart Chamberlain, Ehemann von Richards zweiter Tochter Eva und meist als unangenehme Erscheinung in Wagner-Biographien zur Seite geschoben, erfährt eine breite Darstellung. Ehefrau Winifred dagegen wird überraschend knapp abgehandelt, wahrscheinlich war Carr der Meinung, daß Brigitte Hamann 2002 hierzu bereits genug und insbesondere Kolportiertes ausgesagt habe.

Dritte Generation: Kritisch, wenngleich objektiv steht Carr Friedelind Wagner gegenüber. Siegfrieds älteste Tochter, meist als "Widerstandskämpferin" gegen ihre stark "angebräunte" Mutter Winifred gewürdigt, muß sich dagegen von Carr mancher offenkundiger rassistischer Vorurteile und einer gewissen Bewunderung für Hitler-Deutschland zeihen lassen. Denn sie ließ sich öfters über Juden und Schwarze negativ aus. Carr führt des weiteren die sogenannte "Einem-Affäre" an, über die ansonsten wenig bekannt ist: Friedelind schmuggelte den Familienschmuck ihres zeitweiligen Geliebten Gottfried von Einem aus der Schweiz ins angeblich sichere Frankreich, wobei sie ihn aber versetzte und später nicht mehr einlösen konnte.

Wieland Wagners dubiose, bis heute nie endgültig aufgeklärte Rolle in Zusammenhang mit dem Bayreuther Institut für physikalische Forschung, das vom Ehemann seiner Schwester Verena Bodo Lafferentz geleitet wurde, ist Gegenstand eines weiteren ausführlichen Kapitels. Lafferentz stand an der Spitze der KdF-Organisation und war einer der leitenden Direktoren des Volkswagenkonzerns. In dem erwähnten Institut, einer Art Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg, arbeiteten knapp 100 Häftlinge an der Entwicklung von Fernlenkwaffen. Wielands einzige persönliche Aussage dazu ist, daß er stellvertretender ziviler Leiter dieser Einrichtung gewesen sei - indes war dieses wissenschaftliche Institut Teil des KZ-Systems.

Jonathan Carr schließt sein Buch etwas unpassend mit erhobenem Zeigefinger, den Wagners zurufend: Geht in euch, noch ist Zeit zur Umkehr. Er fordert die Ausarbeitung und Veröffentlichung einer wissenschaftlich fundierten Geschichte der Familie durch das Bayreuther Wagner-Archiv, er verlangt die Öffnung des Wagner-Geheimfundus in München, um mehr Licht auf die Wahnfried-Hitler-Verbindung zu werfen. Zu guter Letzt folgt ein Vergleich mit den Berliner Philharmonikern, die ihre nach Meinung Carrs "propagandistische Schlüsselrolle unter den Nazis" durch eine Sonderausstellung 2007 öffentlich zugegeben hatten, was von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen worden sei. Den Wagners empfiehlt er, "sich diese Lektion zu Herzen zu nehmen".

An einigen Stellen ist die ansonsten vorzügliche deutsche Übertragung ärgerlich. Im Englischen gibt es kein dem deutschen Theaterregisseur entsprechendes Wort, sondern nur einen "producer". Diesen darf man aber in der Übertragung keineswegs zum "Produzenten" werden lassen, wie es die Übersetzung Heinz Tietjen und Wieland Wagner widerfahren läßt. Reichsbühnenbildner Benno von Arent avanciert dabei sogar zum "Naziproduzenten". Die Note h (im Deutschen) heißt im Englischen b, das deutsche b dagegen auf englisch "b flat". So wurde im Text aus Liszts h-moll-Sonate eine b-moll-Sonate. Diese Musikern allgemein vertraute Unterscheidung war offenkundig dem Übersetzer unbekannt. In einem Buch mit einem Anspruch wie dem vorliegenden erscheint es weiterhin unangebracht, bei der Darstellung allgemein erfolgreicher Vorgänge die Interjektion "Bingo" zu verwenden.

Was den Verlag veranlaßt haben mag, im Umschlagtext reißerisch von den Wagners als "Deutschlands berühmt-berüchtigster Familie" zu sprechen, bleibt unklar. Soll sich das "berüchtigt" vielleicht auf gewisse Relationen zu den Mächtigen der NS-Zeit beziehen? Damit mißachtet man allerdings die Intentionen des Autors, dem stets objektiv bleibend, ohne alle Vorurteile, über den Tellerrand von innen und außen hinaus- und hineinblickend, eine ausgewogene Deutung von großer Geschlossenheit gelingt - trotz der kleinen Konzession an den Bewältigungs-Zeitgeist. Dennoch bleibt als Resümee: eine glänzend geschriebene, mit einer bisweilen dem Feuilleton nahestehenden Stilistik auch für Leser ohne Vorkenntnisse zur Wagner-Historie fesselnde Darstellung, darin sicherlich geeignet, ein Bestseller zu werden.

Jonathan Carr: Der Wagner-Clan. Geschichte einer deutschen Familie. Übersetzt von Hermann Kusterer. Hoffmann & Campe, Hamburg 2008, gebunden, 400 Seiten, Abbildungen, 22 Euro

Foto: Richard und Cosima Wagners Kinder Eva, Isolde, Siegfried, Daniela und Blandine (von links) mit dem Dirigenten Hans Richter, um 1900: Über fast 200 Jahre waren ganze drei Generationen prägend

Foto: Wieland (rechts) und Wolfgang Wagner mit ihrem "Onkel Wolf", Bayreuth um 1935: Mehr Licht auf die Wahnfried-Hitler-Verbindung

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