© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/08 05. September 2008

Das gelöschte Gedächtnis
Tag der Heimat: Das Wissen um die deutschen Ostgebiete und die Vertreibung schwindet
Thorsten Hinz

Am 6. September findet in Berlin die Auftaktveranstaltung zum Tag der Heimat statt. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, wird die Eröffnungsrede halten, Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ein Grußwort sprechen. Dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, Donauschwabe von Geburt, wird die BdV-Ehrenplakette überreicht für seine "Verdienste um Menschenrechte und Versöhnung". Zum Schluß werden Veranstalter und Gäste gemeinsam das Deutschlandlied singen - natürlich nur die dritte Strophe. Den Abendnachrichten von ARD und ZDF wird die Veranstaltung eine Dreißig-Sekunden-Meldung wert sein, unterlegt mit einigen Bildsequenzen. Sollte im Publikum ein Plakat mit den deutschen Grenzen von 1937 oder 1913 auftauchen, dauert die Meldung - Nazis ante portas! - fünf Sekunden länger.

Kann die Veranstaltung, 63 Jahre nach Kriegsende und Vertreibung, mehr sein als ein sentimentales Ritual? Der Rückgewinnung des deutschen Ostens, wie früher einmal gefordert, stehen nicht nur Realpolitik und Verträge entgegen. Die Erlebnisgenerationen sind fast alle tot, wer noch als Kind unmittelbare Erfahrung in den Vertreibungsgebieten machte, tritt jetzt ins Greisenalter ein. Einen "Drang nach Osten" gibt es nicht, im Gegenteil. Aktuelle Grenzlandschaften wie Vorpommern und die Uckermark entvölkern sich. Und Restitutions- oder Entschädigungsforderungen an Polen und Tschechien werden nicht gestellt, weil man ihre Erfüllung erwartet und diese auch nur für wünschbar hält, sondern als Retourkutsche auf die Entschädigungsklagen, die sich seit der Wiedervereinigung über Deutschland ergießen.

Trotzdem kann solchen Veranstaltungen eine neue Bedeutung zuwachsen. Das ergibt sich aus der politischen Mentalität in Deutschland, einer Spirale aus politischer Unreife und Geschichtsdummheit, die sich je länger, desto schneller dreht. Sie wirkt doppelt verhängnisvoll, weil in keinem anderen Land politische Entscheidungen so häufig mit den "Lehren aus der Geschichte" begründet werden. Da die meisten Deutschen einschließlich der Politiker die Geschichte nicht bzw. nur ein Zerrbild von ihr kennen, haben sie keine Ahnung von den historischen Lageumständen und Grundtatsachen, die die Gegenwart determinieren. Was sie für politisches Handeln halten, wird so zur permanenten Selbstbeschädigung. Sie verkennen, daß die eigene historische Amnesie und politische Selbstvergessenheit zum politischen Kalkül der anderen gehört.

Am Beispiel der Vertreibung und dem Verlust der Ostgebiete wird das überdeutlich. Der Begriff "Verdrängung" verfehlt den Sachverhalt, denn längst handelt es sich um schlichte Unwissenheit von Lehrern, Medienleuten, Politikern. Die Manipulatoren sind selber Manipulierte, die Dressurelite besteht aus Dressierten. Die moralgetränkten Geschichtshäppchen, die sie servieren, halten sie für nahrhafte historische Bildungskost. Wer nicht weiß, daß es bis 1945 deutsche Ostprovinzen gab, der muß in der Tat die Archiv- und Museumsgüter, die bei Kriegsende nach Westen verbracht wurden, als "Beute"- oder "Naziraubkunst" betrachten, die "zurückzugegeben" ist. Der ist unfähig, auf immer neue finanzielle Forderungen mit dem Hinweis auf den unbezifferbaren Totalverlust der Vertreibungsgebiete zu antworten, den andere sich angeeignet haben - und sei es nur als Argument in einem zwischenstaatlichen Interessenkonflikt. Wer nicht weiß, daß in der Zwischenkriegszeit die deutschen Minderheiten in Osteuropa schwer mißhandelt wurden, für den bleibt die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg in Granit gemeißelt.

Zur politischen Lageerkennung müßte gehören, daß die Nachkriegssituation durch die totale Niederlage, durch die Verstümmelung und Teilung Deutschland bestimmt wurde, an der andere Mächte ein lebhaftes Interesse hatten. Es wäre zu analysieren, ob und in welcher Weise die Lage Deutschlands als politisches Objekt über die staatliche Vereinigung hinaus andauert.

Doch der Bundesmichel übt sich lieber in apolitischer Sentimentalität. Von der Vorgeschichte der Bundesrepublik weiß er nur, daß seine Vorfahren sich mutwillig in ein schwarzes bzw. braunes Loch plumpsen ließen und von dort die Nachbarn mit Unrat bewarfen - was diese am Ende nicht hinderte, ihnen von allen Seiten hilfreich die Hände entgegenzustrecken. Er will sich den Glauben nicht nehmen lassen, daß sein Land seit 1945 aus Altruismus mit ungeheuren Geschenken bedacht worden ist: mit der Demokratie, der Entnazifizierung, mit Care-Paketen, dem Marshallplan, dem militärischen Schutz durch die Nato. Er ist wahrhaft davon überzeugt, seinen Ehrgeiz daran setzen zu müssen, sich seiner Geschenke würdig zu erweisen, zum Beispiel durch eine menschenrechtlich orientierte Ausländerpolitik oder durch einen Militäreinsatz am Hindukusch.

Mit der historischen Beräumung der Vertreibungsgebiete, die seit einigen Jahren stattfindet, erklimmt er eine neue Stufe der politischen Infantilisierung. Schon 1999 war in einem Standardwerk aus dem angesehenen Siedler-Verlag zu lesen, Hinterpommern sei bis 1945 von einem "bunten Völkergemisch" bewohnt worden. Jetzt wird gebürtigen Ostpreußen, Pommern und Schlesiern durch die Steuerbehörde sogar mitgeteilt, daß sie in Wahrheit in der Russischen Förderation bzw. in Polen geboren wurden. Einen Landraub und eine Vertreibung, die den Namen verdient, kann es also gar nicht gegeben haben! Diese staatlich verordnete Geschichtsfälschung hat System. Sie bekräftigt die Illusion einer - von unvermeidlichen NS-Tuberkeln abgesehen - keimfreien BRD-Historie und ihres schmerz-, geschichts- und problemlosen Glücks in der Gemeinschaft freier Völker. Dagegen wären klare Worte fällig. Nur würden sich dann keine Innenminister und Erzbischöfe mehr zum Tag der Heimat einfinden.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen