© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/08 05. September 2008

Gefährliche Moskauer Illusionen
Rußland: Ein neuer Kalter Krieg schadete nicht nur Europa, er brächte auch das Ende der Reformen, Kapitalflucht, Inflation und Verarmung
Wilhelm Hankel

Der jüngste Krieg im Kaukasus und die Anerkennung der abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien durch Moskau hat das Verhältnis zwischen der EU und Rußland auf einen Tiefpunkt gebracht. Speziell aus den östlichen EU-Hauptstädten kommen Forderungen nach immer härteren Sanktionen gegen Rußland. Im Gegenzug erwägt die Regierung in Moskau, die Gas- und Öllieferungen nach Europa zu drosseln. Speziell die deutsche Industrie sorgt sich zudem um einen ihrer größten Absatzmärkte. Zahlreiche deutsche Arbeitsplätze sind in Gefahr. Schon ist von einem neuen "Kalten Krieg" die Rede. Doch den brauche Rußland nicht zu fürchten, glaubt Präsident Dmitri Medwedew im Vertrauen auf die Energie- und Rohstoffabhängigkeit der EU-Länder. Er könnte sich auf fatale Weise irren.

Denn schon die Sowjetunion war nicht in der Lage, Kanonen und Butter gleichzeitig zu finanzieren. Nach 40 Jahren Rüstungswettlauf mit den USA beendete Michael Gorbatschow das Experiment, Boris Jelzin liquidierte 1991 das Imperium, um wenigstens das russische Kernland zu sichern. Beide haben ihren Landsleuten so jugoslawische Verhältnisse weitgehend erspart. Seitdem sollte klar sein, daß die erneute Abkapselung der russischen Volkswirtschaft vom Ressourcen- und Produktivitätspotential der Weltwirtschaft den Abbruch des Reformprozesses erzwingen würde.

Rußland ist auf den Import ausländischen Kapitals und Know-hows angewiesen. Die Kapitalbildung im Land und die im Export verdienten Mittel reichen bei weitem nicht aus, um die angestoßenen Investitions- und Infrastrukturoffensiven, zu denen es keine Alternativen gibt, durchzuhalten und zu finanzieren. Das weiß auch die Führung. Wenn nicht, kann sie es in Handbüchern der Entwicklungsfinanzierung nachlesen - oder in Berichten aus der Zeit Peters des Großen oder Katharinas II.

Exportüberschüsse, ob in Zobelfellen oder Energierohstoffen, begründen keine moderne, vernetzte Marktwirtschaft, wie man am Persischen Golf studieren kann. Man muß auch die unerläßlichen Voraussetzungen und Institutionen schaffen: sicheres Recht, stabiles Geld, ein effizientes Steuersystem und einen starken Finanzsektor. An alledem fehlt es in Rußland. Man ist auf die Zusammenarbeit mit dem Ausland auf Staats- wie Firmenebene angewiesen.

Die weichen Stellen der russischen Volkswirtschaft sind das unzureichende Steuersystem und der schwache Finanzsektor. Der russische Staat lebt (wie ein Golfstaat) von den Gewinnen im Öl- und Gasexportgeschäft. Kommt es zu Ausfällen, weil die Preise sinken oder die Nachfrage nachläßt, müßte er wie zur Sowjetzeit auf die Notenbank zurückgreifen und fehlende Einnahmen durch Inflation ersetzen. Rußlands Zentralbank ist noch immer eine von der Regierung abhängige Behörde.

Entsprechend mißtrauisch bleibt die Bevölkerung, was die Währungsstabilität betrifft. Große Teile der nationalen Ersparnis werden in US-Dollar und Euro, dem Nachfolger der einst so beliebten D-Mark, angelegt. Dieses Kapital geht so dem inländischen Investitionsprozeß verloren. Wollten die Behörden der im Kalten Krieg aufflammenden inneren und äußeren Kapitalflucht den Kampf ansagen - sie hätten keine Chance. Landesweite Schwarzmärkte würden den offiziell verbotenen Devisenhandel ablösen, ebenfalls wie zur Sowjetzeit. Das Land fiele zurück in überwunden geglaubte Zustände. Nur: Die Bevölkerung würde dies nicht mehr akzeptieren.

Die jüngsten Kursstürze an der Moskauer Börse sind ein ernst zu nehmendes Warnsignal. Schon der erste Schritt in die falsche Kalte-Kriegs-Richtung machte die Brüchigkeit der Finanzierungsgrundlagen von Staat und Wirtschaft offenbar. Hier liegt die Achillesferse des modernen Rußland. Dessen ungeachtet setzten Medwedew und sein Amtsvorgänger, Premier Wladimir Putin, auf Rußlands vermeintlich ungefährdete Exportmärkte im Westen.

Sibirisches Gas und Öl seien für die EU-Staaten unersetzlich. Für diesen Irrtum büßt bereits seit Anfang der 1970er Jahre die Organisation erdölexportierender Länder (Opec). Ihr Lieferanteil hat sich seitdem halbiert, obwohl (oder weil!) sich die Ölpreise verzehnfacht haben und neue Großabnehmer wie China und Indien dazugekommen sind. Das Ölkartell unterschätzt noch immer die Wirkung des von der damaligen Krise ausgelösten energietechnischen Fortschritts. Die Verbraucherländer kommen mit immer weniger Energieeinsatz je Endprodukt aus ("Ersparnis"), sie machen unrentable Förderstätten und -verfahren konkurrenzfähig (Nordsee, Ölschiefer usw.) und erschließen sich neue Energiequellen wie Sonne, Wasser, Wind und Erdwärme. Die Atomkraft steht vor einer Renaissance.

Sich nach Asien umzuorientieren und allein auf die dortigen Nachfrager zu setzen, hieße für Rußland, Milliardenbeträge in neue Pipelines investieren. Sie müßten durch die Mongolei und über den Hindukusch (unter Aussparung Afghanistans und Pakistans) geführt werden - eine Investition mit zweifelhafter Zukunftsrendite: Geld, das im inneren Reformprozeß fehlt. Selbst wenn es Moskau gelänge, das georgische Loch im russisch-kontrollierten Pipeline-Netz nach dem Westen schließen, was würde sich ändern? Es wäre ein zu hoher Preis für ein ungewisses Ergebnis.

Wenn (frei nach Paul Kennedy) das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Maßstab für wirtschaftliche Macht nach außen und soziale Stabilität nach innen ist, dann hat Rußland in einem zweiten Kalten Krieg erneut schlechte Karten. Mit einem Zehntel des US-BIP und einem Dreizehntel des BIP der EU könnte die russische Wirtschaft noch weniger als die frühere Sowjetunion im Rüstungswettlauf mit dem Westen mithalten und gleichzeitig den unaufschiebbaren inneren Reformprozeß forcieren. Wie will die Regierung ihrem Volk die daraus resultierende Verarmung erklären? Dabei geht es nicht wie im Großen Vaterländischen Krieg um den Erhalt der Nation, sondern um einen Fetzen Land, das Stalin einst seiner georgischen Verwandtschaft schenkte. Putin und Medwedew mögen keine "lupenreinen Demokraten" sein, als Realpolitiker sollten sie wissen: Sie gefährden Rußlands Aufstieg zu einem modernen, "westlichen" Industrieland - und sich selbst.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel arbeitete Mitte der 1990er Jahre als Finanzberater in der sibirischen Metropole Tjumen und gründete dort eine Bankakademie.

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